Runen sind die ältesten Schriftzeichen der Germanen. Sie können einen Laut, einen Begriff, Zahlen oder magische Zeichen darstellen. Runen waren vom 2. bis zum 14. Jahrhundert für geritzte und gravierte Inschriften auf Gegenständen und auf Steindenkmälern in Gebrauch. Ihre Verbreitung zeigt von Anfang an einen deutlichen Schwerpunkt in Südskandinavien (einschließlich Jütlands). In den anderen Siedlungsräumen germanischsprachiger Völker ist nur eine dünne Streuüberlieferung zu finden, die außerdem mit dem jeweiligen Einzug des Christentums zum Ende kommt.

Die Verwendung der Schrift war vor der Christianisierung in den germanischen Kulturen, die Runen gebrauchten, nicht tief verwurzelt; Schriftkulturen waren sie allenfalls ansatzweise. Schrift- und lesekundig war wie überall nur eine kleine Elite von Schreibern. Runen wurden vor allem für Inschriften zum Gedenken an Verstorbene oder an besondere Ereignisse, zur Weihe oder zum Verschenken von Gegenständen, als Besitzerangaben und als Münzinschriften verwendet. Im hochmittelalterlichen Skandinavien bildete sich, in Konkurrenz zur lateinischen Schrift, eine Art Gebrauchsschriftlichkeit in Runen aus.

Bezeichnungsherkunft

Die Etymologie des Wortes Rune ist nicht endgültig geklärt. Entweder ist es zu einer Wurzel urgermanisch *run- (u.a. fortgesetzt in gotisch runa; verwandt damit sind auch die deutschen Wörter raunen und Geraune) mit der Bedeutung 'Geheimnis' zu stellen oder es gehört zu einer homonymen Wurzel *run- 'Einritzung'. Von den Buchenstäben, auf die die Runen geritzt wurden, leitet sich das Wort Buchstabe ab.

Ursprung

Die Runen sind vermutlich weder unabhängig entstanden, noch sind sie von den Germanen als fertiges Schriftsystem übernommen worden, sondern wurden weitgehend eigenständig nach Vorbildern südeuropäischer Schriften entwickelt. Die Runen gehen letztlich auf die große phönizisch-aramäische Familie von Alphabeten zurück, die im 1. Jahrtausend v.Chr. im Gebiet des Libanon und Syriens entstanden sind und zu denen auch alle heutigen europäischen Schriften gezählt werden.

Runenreihen

Das ältere Futhark: Die älteste Runenreihe

 
Älteste Runenreihe („futhark“) (eu (?) = ei)

Die älteste überlieferte Runenreihe (nach den ersten sechs Buchstaben fuþark genannt) bestand aus 24 Zeichen. Etwa 350 Inschriften in dieser ältesten Runenreihe wurden bislang entdeckt. Alle jüngeren Runenreihen ab etwa 700 leiten sich vom älteren Futhark ab.

Varianten des jüngeren Futhark wurden auf 33 Runen erweitert oder auf 16 reduziert.

Runen als magische Zeichen

Schriftgebrauch wurde in allen archaischen Kulturen (auch) als Medium magischer Macht und Aura angesehen. Viele der alten Kulturen hielten ihre Schrift (selten aber ihre Sprache!) für die Erfindung oder das Geschenk eines Gottes. Zweifellos waren auch die Runen, zumal in ältester Zeit, mit sakralen und religiösen Zwecken verbunden (Grabinschriften, Opfer an Götter, Amulette etc.). Unter den ältesten Funden sind mehrere Ritzungen auf Lanzen- und Speerspitzen, die die Funktion dieser Waffen mit poetisch-magischen Namen beschwören.

Die Verwendung der Runen zu magischen Zwecken ist besonders im Norden bezeugt. Als Begriffsrunen bedeuteten z.B. Vieh, (gutes) Jahr, Gabe, Ritt einen entsprechenden Segenswunsch, umgekehrt sollten Not, Geschwür eine Befürchtung bannen oder einen Fluch aussprechen. Viele frühe Inschriften bestehen aus einem einzigen Wort wie alu, laukaz, laþu, was man meist als magische Formeln („Heil“, „Gedeihen“) versteht. Auch hier folgt die nordische Welt antiken Vorbildern; Fluchtäfelchen waren in der gesamten klassischen Antike weit verbreitet und beliebt. In den jüngeren skandinavischen Denkmälern werden Zauberrunen für bestimmte Zwecke erwähnt, so Siegrunen, Bierrunen, Bergerunen (zur Geburtshilfe), Seerunen (zum Schutz der Schiffe), Rederunen (um klug zu sprechen), Löserunen (bei Gefangenschaft), Runen zum Besprechen (Stumpfmachen) der Schwerter und dergleichen.

Anders als bei den skandinavischen Funden lässt sich im mitteleuropäischen Raum kaum eine Inschrift als magisch oder Zauberformel deuten. Es handelt sich meist um eher profane private Vermerke, Liebesbezeugungen oder Schenkungswidmungen. Nicht wenige der Ritzungen tragen die Signatur einer Frau. Auch als Markenzeichen auf Gegenständen waren sie üblich. Formeln wie „(Name) machte [...]“ sind nicht selten.

Runenheilkunde

(Abschnitt folgt)

Ideologische Vereinnahmungen

Als scheinbar autochthone, rein germanische Leistung waren die Runen anfällig dafür, für ideologische und politische Zwecke zur Zeit des Nationalismus instrumentalisiert zu werden. Schon im 17. Jahrhundert entwickelten Dänemark und Schweden einen ahistorischen Stolz auf „ihre“ Runen. Einer kulturkritischen Strömung am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich in neuheidnischen und antisemitischen Tendenzen äußerte, kamen vorchristliche, „nordische“ Traditionen nur gelegen. Die Vereinnahmung der völkischen "Sig-Rune" (wie auch Teile der nordischen Mythologie) durch die Hitlerjugend und die SS im Dritten Reich und der Odalrune durch Neonazis ist dabei nur die bekannteste Form dieser ideologischen Indienstnahme.

Runenesoterik

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts keimte in einigen esoterischen Kreisen Interesse an den Runen auf. Es waren vor allem völkisch-mystisch gesinnte Menschen, die die Runen in ihrem Sinne umdeuteten, sich neue Runenalphabete ausdachten und verwendeten. Die völkische Bewegung verwendete nie die historischen Runen, sondern frei erfundene runenähnliche Zeichen. Der bedeutendste Impulsgeber war Guido von List (1848–1919), ein österreichischer Romantiker mit exzentrischen Ansichten. Er empfing den Großteil seines okkulten „Runenwissens“ nach eigenem Bekunden in Form von Visionen und galt seinen Anhängern als eine Art Prophet. Er gründete die Guido-von-List-Gesellschaft (auch als Armanen-Orden bezeichnet), und das von List frei erfundene Futhark, das sich nur lose auf das jüngere Futhark stützt, wurde daher auch Armanen-Futhark genannt. List postulierte ein Urvolk mit eigener Ursprache namens „Ariogermanen“. Er ging davon aus, dass dieses Volk, eine reinblütige „Rasse“ von blonden, blauäugigen Menschen, schon seit Urzeiten ein 18 Runen umfassendes Schriftsystem benutzt habe. Bis in die 1970er Jahre arbeitete die Runenesoterik fast ausschließlich mit diesem Armanen-Futhark. Spätere Autoren stützten sich ebenfalls auf dieses Futhark; so etwa Jörg Lanz von Liebenfels (ein ehemaliger Zisterziensermönch), der Begründer der Ariosophie, einer Art Rassenmystik, die auch einen der ideologischen Vorläufer für die nationalsozialistische Rassenlehre bildete. Daneben war Lanz Herausgeber der völkisch-rassistischen Ostara-Hefte (von denen man annimmt, dass auch Adolf Hitler mit ihnen in seiner Wiener Zeit in Berührung gekommen sei) und gründete den ONT (Ordo Novi Templi = Neutemplerorden). Daneben sind noch zu nennen: Karl Maria Wiligut (besser bekannt als Sturmbannführer Weisthor), der „Rasputin“ Himmlers, und Friedrich Bernhard Marby, der Erfinder des Stödhur (auch als Runen-Gymnastik oder Runen-Yoga bekannt), bei dem die auszuführenden Figuren jeweils Runen symbolisieren und mit dem der rassenbewusste nordische Mensch seinen Geist und Körper veredeln sollte.

So entstanden weder die Rassenlehre des Nationalsozialismus noch der Gebrauch der Armanen- und Wiligut-Runen im Dritten Reich in einem luftleeren Raum, sondern schöpften aus den völkischen Ideen, die vor dem Ersten Weltkrieg und vor allem in den 1920er Jahren entstanden.

Die neuere Runenesoterik bezieht sich häufig auf die Arbeiten des amerikanischen Runenmagiers Edred Thorsson (d.i.: Stephen Flowers), Vorsitzender der Rune-Gild[1](Lit.: Edred Thorsson, 1987). Der in Nordistik/Altgermanistik promovierte Flowers verwendete als Grundlage auch wieder das ältere, 24 Runen umfassende Futhark anstelle des Armanen-Futhark.

Generell zeichnen sich die Lehren der Runenesoterik durch einen starken Eklektizismus aus. Esoterisch arbeitende Runenmagier benutzen bei ihrer Beschäftigung mit Runenmagie und Runenorakel zum einen vorgeblich „eigene“ Gedanken und Überlegungen, greifen aber oft auch auf die wenigen schriftlichen Quellen des Hoch- und vor allem Spätmittelalters zurück, in denen etwas über die magische Verwendung von Runen berichtet wird. Dazu gehören beispielsweise Odins Zaubersprüche in der Edda und die altisländischen und altenglischen Runengedichte (s.o.). Dabei wird gern übersehen, dass diese späten schriftlichen Überlieferungen aus einem bereits vollständig christianisierten Umfeld stammen und entsprechend kaum reine „germanisch-heidnische“ Vorstellungen wiedergeben. Allerdings legt die Runenmagie keinen Wert auf historische Richtigkeit (sie ist schließlich keine Wissenschaft), sondern auf den praktisch-subjektiven Zugang, der jede (objektive) Fehlinterpretation verzeihlich macht. Meist wird in Publikationen zum esoterischen und magischen Gebrauch der Runen betont, dass der jeweilige Autor nur eine Hilfestellung und Ideen liefern möchte, dass jedoch bei der Arbeit mit Runen jeder neue Adept aus sich selbst heraus individuell die Runen und ihre Kraft „verstehen“ und den Umgang mit ihnen lerne müsse – etwa durch Meditation, Trance u.ä.

Als Runenesoteriker gilt auch der deutsche Ariosoph und Antisemit Rudolf John Gorsleben.

Literatur

  • René Lodewijk Maurits Derolez: Runica Manuscripta. The English Tradition. De Tempel, Brugge 1954 (Standardwerk über die „Buchrunen“).
  • Alfred Becker: Franks Casket, Zu den Bildern und Inschriften des Runenkästchens von Auzon. Sprache und Literatur. Regensburger Arbeiten zur Anglistik und Amerikanistik. Bd. 5. Hans Carl, Regensburg 1973. ISBN 3-418-00205-6
  • Thomas Brock: Runen - die magischen Zeichen in: Abenteuer Archäologie. Spektrum der Wissenschaft Verl.-Ges., Heidelberg 2006, 1, 84ff.
  • Klaus Düwel: „Zur Auswertung der Brakteatinschriften. Runenkenntnis und Runeninschriften als Oberschichten-Merkmale.“ In: Karl Hauck (Hrg): Der historische Horizont der Götterbilsamulette aus der Übergangsepoche von der Spätantike zum Frühmittelalter. Göttingen 1992.
  • Klaus Düwel (Hrg.): Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung. Abhandlungen des Vierten Internationalen Symposiums über Runen und Runeninschriften in Göttingen vom 4.-9. August 1995.. Walter de Gruyter. 1998. ISBN 3-11-015455-2
  • Klaus Düwel: Runenkunde. Metzler, Stuttgart 2008, 4. überarb. u. akt. Aufl., ISBN 978-3-476-14072-2
  • Wilhelm Hauer: Schrift der Götter. Vom Ursprung der Runen. Orion-Heimreiter-Verlag, Kiel 2006 (Manuskript 1934). ISBN 3-89093-028-X
  • Ulrich Hunger: Die Runenkunde im Dritten Reich – Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Ideologiegeschichte des Nationalsozialismus. Europäische Hochschulschriften. Reihe 3. Lang, Frankfurt M 1984. ISBN 3-8204-8072-2
  • Heinz Klingenberg: Runenschrift – Schriftdenken – Runeninschriften. Carl Winter, Heidelberg 1973. ISBN 3-533-02181-5
  • John McKinnel / Rudolf Simek / with Klaus Düwel: Runes, magic and religion. A source-book. Wien 2004. ISBN 3-900538-81-6
  • Robert Nedoma: Personennamen in südgermanischen Runeninschriften. Carl Winter, Heidelberg 2004. ISBN 3-8253-1646-7
  • Edred Thorsson: Handbuch der Runen-Magie. Urania Verlag, Sauerlach 1987, Neuhausen 1992. ISBN 3-908644-63-1
  • Artikel „Runen“, „R.dichtung“, „R.fälschungen“, „R.gedichte“, „R.inschriften“, „R.meister“, „R.münzen“, „R.namen“, „R.reihen“, „R.schrift“, „R.steine“. In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Bd 25. Walter de Gruyter, Berlin – New York 2003, S. 499–596. ISBN 3-11-017733-1

Weblinks

Quellennachweise


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