Gerald Hüther
Gerald Hüther (geb. 15. Februar 1951 in Emleben/Gotha) ist ein Neurobiologe aus Göttingen, der durch umstrittene Ansichten zu ADHS auf sich aufmerksam macht.
Allgemeines
Tätigkeit an der Universität Göttingen
Hüther studierte Biologie, Tierphysiologie und Neurohistochemie in Leipzig. Nach seiner Flucht nach Westdeutschland forschte er am Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in Göttingen im Bereich Neurobiologie. Seine Habilitation erfolgte 1988 im Fachbereich Medizin der Universität Göttingen. An der dortigen Psychiatrischen Klinik übernahm er als Naturwissenschaftler die Leitung des 1995 neu gegründeten Fachbereichs Neurobiologische Grundlagenforschung. Seit 2006 ist er zwar noch unspezifisch als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Göttinger Psychiatrischen Universitätsklinik angeführt, jedoch lassen sich in den von der Abteilung regelmäßig veröffentlichten Forschungsberichten der letzten Jahre keine Anhaltspunkte für eigene neurobiologische Grundlagenforschung unter Hüthers Namen finden. Während in den Forschungsberichten der Psychiatrischen Klinik Göttingen der Jahre 2003 bis 2006 der Name Hüthers noch gelistet ist, taucht er in denen der Jahre 2006 bis 2008 nicht mehr auf.[1][2] Zu seiner derzeitigen wissenschaftlichen Tätigkeit äußert Hüther sich auf seiner Webseite: "Er (Hüther) rekurriert vielmehr auf die Summe all der Erkenntnisse, die er als experimenteller Neurowissenschaftler in vielen Einzeluntersuchungen gemacht hat und leitet dann, gewissermaßen auf einer Metaebene, aus diesem reichhaltigen wissenschaftlichen Erfahrungsschatz das ab, was er als Grundlage seiner populärwissenschaftlichen Darstellungen verwendet [...]"[3]
Falsche Titulierungen
Auffällig sind die in der Mediendarstellung immer wieder vorkommenden Fehlinformationen zu Hüthers beruflicher Expertise. So wird er nicht selten fälschlich als Dr.med, Neurologe, Psychologe, Psychiater oder gar als Leiter einer psychiatrischen Klinik tituliert, obwohl er über keinerlei psychologische oder medizinisch-klinische Ausbildung verfügt.[4][5][6][7][8][9][10]Selbst Peter Schipek, der als Webmaster für Hüthers Seite Win Future verantwortlich ist [11], bezeichnet Hüther auf seiner eigenen Homepage lernwelt.at weiterhin trotz besseren Wissens als "Leiter der Abteilung für neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen.[12]Diese Funktion hat Gerald Hüther aber bereits seit mehreren Jahren nicht mehr inne. Hüther selbst scheint zumindest nichts zu unternehmen, um solche peinlichen und hartnäckig verbreiteten Irrtümer bzw. im letzten Fall absichtlich plazierte Fehlinformationen zu korrigieren.
Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung
Nach einschlägigen Mediendarstellungen und laut eigener Vita leitet Hüther seit 2006 die "Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung" an den Universitäten Göttingen und Mannheim (Institute of Public Health). Diese Zentralstelle verfügt erst seit Oktober 2011 eine der Universität Göttingen, Klinik für Psychiatrie, angeschlossene Homepage. Andere Mitarbeiter, Forschungsprojekte und Veröffentlichung dieser Zentralstelle werden nicht aufgeführt. [13] Unter der Rubrik "Publikationen" sind lediglich Hüthers Publikationen aus diversen Fachgebieten, die bis ins Jahr 2008 datieren, aufgeführt, z.B. auf dem Gebiet Neurohistochemie. In Internet-Suchmaschinen taucht die "Zentralstelle" ausschließlich in Verbindung mit der Person Hüthers auf.
Auffassungen zu ADHS
Zur Entstehung von ADHS vertritt Hüther eine vom allgemeinen Stand der Forschung abweichende Theorie. In einem Aufsatz der Zeitschrift Analytische Kinder-und-Jugendlichenpsychotherapie 3,2001 behauptete Hüther u.a., dass ADHS durch einen Überschuss an Dopamin im Striatum (einem Teil des Großhirnes) zustande kommt.[14] Dieser Ansatz wird von anderen Wissenschaftlern nicht geteilt, weil weder die neurobiologische noch klinische Befunde diese Hypothese untermauern.[15] Das Manuskript dieses Aufsatzes wurde entgegen guter wissenschaftlicher Praxis vor seiner offiziellen Veröffentlichung auf einer dubiosen ritalinkritischen Internetpräsenz, dem Café Holunder von Hans-Reinhard Schmidt unter dem Titel: "Exklusiv: Die HÜTHER-Studie" einschließlich einer persönlichen Stellungnahme von Hüther selbst zur allgemeinen Kenntnisnahme frei gegeben.[16][17]
Umstritten sind Hüthers Experimente an insgesamt 5 Ratten, bei denen er nachgewiesen haben will, dass die Langzeitgabe von Methylphenidat (Ritalin®) das Entstehungsrisiko für eine spätere Parkinson-Krankheit stark erhöhen würde. Allerdings wurde im Abstract der Studie mit den Ratten ein mögliches Parkinson-Risiko nicht erwähnt, sondern, dass die frühzeitige Gabe von Methylphenidat die Dopamin-Transporterdichte signifikant und nachhaltig reduziert, was eher eine Bestätigung für die Wirksamkeit von Methylphenidat bei ADHS ist.[18]
Kritikpunkte an den Schlussfolgerungen zu den Ratten-Experimenten sind vor allem, dass man mit der geringen Anzahl von nur 5 Versuchstieren keine validen und signifikanten Ergebnisse liefern kann und dass in der Praxis, wo Methylphenidat bereits seit 40 Jahren angewendet wird, keine Parkinson-Fälle in Folge dieses Medikamentes auftraten. Der Zusammenhang zwischen einer Langzeit-Methylphenidatgabe im Kindesalter und einem erhöhten Risiko, später an der Parkinson-Krankheit zu erkranken, ist mittlerweile widerlegt.[19][20][21] Bei ADHS ist die Dopamin-Transporterdichte im striatofrontalen Gehirnbereich erhöht, während die Dopamin-Produktion normal ist. Bei Parkinson hingegen liegt das Problem im striatonigralen Gehirnbereich, hierbei degenerieren die Zellen, die das Dopamin produzieren, in der Substantia nigra. Darum wird zu wenig Dopamin hergestellt. Dafür funktionieren bei Parkinson die Dopamin-Transporter normal. Schon seit mehreren Jahren distanziert sich der Arbeitskreis Neurobiologie der Georg-August-Universität Göttingen nachdrücklich von Hüthers Aussagen hierzu.[22]
Nach Hüthers Auffassung besteht für ADHS zwar auch eine angeborene Anlage, die Störung soll sich aber, bedingt durch die Plastizität des Gehirns, allein durch erzieherische Maßnahmen lindern lassen oder gar nicht erst zum Ausbruch kommen.[23] Eine erbliche Komponente für die Entstehung von ADHS lehnt Hüther ab. Die Ursachen für ADHS sind ihm zufolge rein psychologischer und pädagogischer Natur. Die Behandlung von ADHS mit Methylphenidat (Ritalin®) sieht Hüther als "chemische Notlösung" an.
Zitat:
- "Die innere Struktur des kindlichen Gehirns, also die Art, wie die verschiedenen Zentren miteinander vernetzt werden, entsteht nicht von allein. Es hängt davon ab, welche Erfahrungen ein Kind macht. Das heißt: Wenn in der äußeren Welt Struktur gebende Elemente fehlen, kann auch im Gehirn keine Struktur aufgebaut werden. Das ist heute ein riesiges Problem, denn unsere Welt hat viel an Struktur verloren. Das hängt mit der Hektik des modernen Alltags zusammen, mit Problemen, die jungen Familien zu schaffen machen wie Partnerschaftskonflikte oder mit Karrieren, die aufzubauen sind. Kinder wachsen heute in eine Welt hinein, in der sehr viel durcheinander gerät, die wenig Halt, wenig Strukturen bietet. Besonders schwierig ist dies für diejenigen Kinder, die mehr Strukturen brauchen als andere, die so genannten ADHS-Kinder."[24]
Diese Auffassung bringt Hüther vor allem Beifall aus dem Lager der durch Scientology propagierten Psychiatriekritik[25], von Vertretern der Psychoanalyse, ADHS- bzw. Ritalinkritikern sowie auch aus der Esoterik- und Anthropsosphenszene[26] ein. Beispielsweise stützt Hans Tolzin seine ADHS- bzw. Ritalinkritik auf Hüther.[27] Tolzins Internetseite verlinkt auf eine scientologynahe Ritalinkritik-Webseite, die sich ihrerseits auf Hüther beruft. Mit dem KVPM-Menschenrechtspreisträger Paul Runge traf Hüther im Rahmen eines von Helmut Bonney veranstalteten Seminars im Jahr 2003 zusammen. Mehrfach trat Hüther auch im Rahmen der jährlichen Lindauer Psychotherapiewochen als Gastredner auf, im Programm für das Jahr 2007 fälschlich als "Dr.med" angekündigt.[28] Gemeinsam mit der Psychoanalytikerin Annette Streeck-Fischer tritt er auch weiterhin als ADHS-Experte im Rahmen von Ärztekammer-zertifizierten Fortbildungen in Erscheinung, so auf auf der Jahrestagung für Psychotraumatologie in Göttingen 2010[29] oder 2007 auf den Bad Wildunger Psychotherapietagen gemeinsam mit dem Pädagogen Wolfgang Bergmann,[30] welcher oft fälschlich als Kinderpsychologe bezeichnet und in der unten verlinkten Quelle zudem mit falschem Dr.-Titel angekündigt wird.
Zusammen mit Jirina Prekop, der Erfinderin der Festhalte-"Therapie", hat er das Buch "Auf Schatzsuche bei unseren Kindern" verfasst.[31] Dieses Buch wird u.a. vom Antipsychiatrie-Verlag vertrieben.
Gemeinsam mit dem Pädagogen Wolfgang Bergmann, der in den Medien oft als "Kindertherapeut" bezeichnet wird und nach eigenen Angaben ein "Institut für Kinderpsychologie" in Hannover leitet, veröffentlichte Hüther das 2008 im Beltz Verlag erschienene Buch "Computersüchtig - Kinder im Sog der modernen Medien".[32]
Aktivitäten
Vorträge, Seminare
Schwerpunkt Hüthers derzeitiger Aktivitäten sind Publikationen, Vorträge und Seminare im ADHS-kritischen Umfeld.[33] Offenbar scheint er sich dabei zunehmend in esoterischen Kreisen zu bewegen, wie die Vorankündigung für einen Vortrag mit der Überschrift "Spiritualität als geistige Haltung und als Grundlage für verantwortliches Handeln" auf dem Kongress vom 24. Juli 2009 bis 26. Juli 2009 in Freiburg „Das Ganze im Blick - Wissenschaft und Spiritualität für eine Neuorientierung in Erziehung und Gesellschaft“ vermuten lässt[34]:
- "Der Vortrag betrachtet die Voraussetzungen für die Herausformung von Spiritualität als geistige Haltung, macht deutlich, dass jeder Mensch bewusst oder ungewusst eine spirituelle Haltung entwickelt und dass es eines Bewusstwerdungsprozesses dieser spirituellen Haltung bedarf, damit Spiritualität in verantwortliches Handeln umgesetzt werden kann."
und
- "Wir sind auf eine tiefere und subtilere Weise mit allen anderen Menschen und mit der Welt verbunden, als uns das lieb ist und wir es uns bewusst zu machen bereit sind."[35]
Hüther veröffentlicht auch weiterhin seine Meinung, dass ADHS keine Krankheit sei, wie beispielsweise in der Zeitschrift "Pädiatrie", Nr. 2/10[36]. In der gleichen Zeitschrift wiederholt er nochmals seine Parkinson-Hypothese:
- "In Tierversuchen hatte ich schon vor über zehn Jahren zusammen mit anderen herausgefunden, dass die dauerhafte Verabreichung von Methylphenidat die Ausreifung dopaminerger Projektionen hemmt. Die Tiere erhalten dadurch ein schwächer ausgebildetes dopaminerges System. Welche Spätfolgen das hat und ob das auch bei Kindern, die mit Ritalin behandelt wurden, so ist, weiss ich nicht. Da das Parkinson-Syndrom durch Degeneration dopaminerger Neuronen entsteht, könnten Personen, die sehr früh und über einen langen Zeitraum mit Methylphenidat behandelt worden sind und im Alter Parkinson bekommen, diese Störungen ein paar Jahre früher entwickeln."
Frühprävention statt Medikalisierung
Hüther arbeitete an dem vom Sigmund-Freund-Institut initiierten Projekt "ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung" mit, das einseitig auf erzieherische, psychologische bzw. psychoanalytische Maßnahmen beim Umgang mit Kindern, die an ADHS leiden, und andererseits auf "ADHS-Prävention" setzt.[37] Zu diesem Projekt wurde ein gleichnamiges Buch herausgegeben, das u.a. auch beim Antipsychiatrieverlag angeboten wird.[38]
WIN-FUTURE
Hüther ist Gründer und zusammen mit dem Pädagogen Karl Gebauer Leiter eines so genannten "wissenschaftlichen interdisziplinären Netzwerkes für Entwicklungs- und Bildungsforschung", genannt "WIN-FUTURE". Eigenen Aussagen zufolge behandelt dieses Netzwerk ein weites Spektrum der Neurobiologie, zur Verbreitung von Wissenswertem über die neuesten Erkenntnisse aus der Hirnforschung und Neurobiologie.[39] Mitglieder des Netzwerkes sind u.a. der ADHS/Ritalin-Kritiker Reinhard Voß und die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleben.[40]
Sinn-Stiftung
Hüther ist wissenschaftlicher Leiter der Stiftung „Sinn-Stiftung“, einer als gemeinnützig eingetragenen Stiftung mit dem Ziel, „dass Menschen durch Entwicklungs-Impulse in der Gemeinschaft über sich hinaus wachsen und ihr menschliches Potential entfalten“. Nach eigenem Verständnis hat die Stiftung folgende Ziele:
- Förderung von Schlüsselkompetenzen
- Weiterentwicklung des Lern- und Lebensraumes Schule
- Integration von Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung
- Erforschung der idealen Lernvoraussetzungen
- Angebote zum handlungsorientierten Lernen
- Weiterbildung von Pädagogen
- Umsetzung von sinnvollen Veränderungen in Kindergärten und Schulen
- Angebot von naturnahen Lern-Erlebnissen (Erlebnispädagogik)
- Nutzung des natürlichen Bezugs zu Tieren für die Förderung der Sozialkompetenz (Tiergestützte Pädagogik)
Allerdings hat diese Stiftung auch zum Ziel, die Medikation mit Methylphenidat einzuschränken, was auch daran ersichtlich ist, dass Verbindungen zu dem Projekt „WIN-FUTURE“ bestehen, das von bekannten ADHS/Ritalin-Gegnern initialisiert wurde.[41] Eines der Projekte von Sinn-Stiftung ist das ADHS-Alm-Projekt, in dem es ebenfalls darum ging, die Medikation mit Methylphenidat durch eine Art Erlebnispädagogik zu ersetzen.
Sonstiges
Hüther ist auch in anderen Bereiche sehr aktiv. Auffällig ist dabei, dass er zumehmend in Gremien tätig wird, die Einfluss auf die Politik haben. So ist er auf dem Deutschen Schulleiterkongress, der am 16.–17. März 2012 im Kongresszentrum CCD Süd in Düsseldorf stattfindet, als Referent eines Hauptvortrages aufgeführt. [42] Ferner ist er Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der "Offenen Akademie", deren Zielsetzung darin besteht, breite Kreise der Bevölkerung in eine aktive Diskussion über wissenschaftliche Fragen einzubeziehen, eine günstige Plattform für Hüther zur Verbreitung seiner Ansichten.[43]
Das ADHS-Alm-Projekt
Hüther ist als wissenschaftlicher Leiter der Stiftung „Sinnstiftung“ mitverantwortlich für das ADHS-Almprojekt dieser Stiftung, bei dem elf Jungen mit ADHS im Alter zwischen 8 und 14 Jahren zwei Monate auf einer Alm in Südtirol verbrachten, wobei die Medikamente abgesetzt wurden. Dieser Aufenthalt wurde vom Veranstalter als Therapie bei ADHS angepriesen und in den Medien als Alternative zur medikamentösen Behandlung verkauft. So wird nach eigenem Verständnis als Ziel dieser Maßnahme Folgendes genannt und entsprechend werbewirksam (z.B. als Titel im "Stern") präsentiert:
- Neue Wege im Umgang mit AD(H)S-Konstellationen, wissenschaftlich begleitet, zu erproben und aufzuzeigen – und so in der öffentlichen Diskussion um AD(H)S Impulse zu setzen
- Neue Wege für betroffene junge Menschen und ihre Familien zu initiieren – Impulse zu geben
- Die professionellen Unterstützer sehen sich als Team mit unterschiedlichen Ressourcen und Rollen.
- Die „Empfänger“ und ihr soziales Umfeld (Eltern, Familie, Freunde, ...) werden als privates System betrachtet.
- Lehrer, medizinisch-therapeutisch-pädagogische Fachkollegen und z.B. Sporttrainer im heimischen Umfeld haben eine wichtige Rolle zum Langzeittransfer.
- Die Realisierung und Evaluation erfolgt in Zusammenarbeit mit einem hochqualifizierten Kompetenz-Team aus Medizin, Therapie, Wissenschaft, Pädagogik und Praxis.[44]
Während z.B. auf der Internet-Seite von Hans-Reinhard Schmidt von einem Erfolg des Projektes geschrieben wird, kann dies im Gegensatz dazu anhand der Berichte von Eltern teilnehmender Kinder nicht bestätigt werden: Sechs von elf teilnehmenden Jungen wechselten nach dem Alm-Camp die Schule bzw. waren oder sind aufgrund ihres Verhaltens vom Schulausschluss bedroht. Von dieser Zahl, dem Schicksal der Kinder und dem Leben ihrer Familien liest man im „Stern“ leider nichts.
Nicht einer, wie in „Stern“-Artikel und ZDF-Reportage zum Zeitpunkt ihres Entstehens mitgeteilt, sondern vier der Jungen nehmen inzwischen wieder Medikamente. Ihre Eltern sind nicht zu „sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt“, so dass sie ihre Kinder „nicht auffangen können“, wie es der „Stern“ im Fall des einen Jungen suggeriert. Sie stehen nur an derselben Stelle, an der sie vor dem Alm-Camp waren, das zumindest diesen Kindern nicht allzu viel geholfen hat...[45] Die Mutter eines am Projekt teilnehmenden Jungen berichtet:
- Ich wähnte die Kinder oben am Berg in einer gemütlichen, warmen Hütte und war entsetzt, als wir nach drei Wochen zum ersten und einzigen mal zu Besuch kommen durften und ich feststellte, dass oben auf dem Berg 16 Menschen in einer winzigen Hütte von etwa 40m² ohne Strom, ohne sanitäre Anlagen und ohne Heizung lebten. Die kleine Hütte war völlig verrußt und verraucht, weil der Ofen immer wieder eine dicke Portion Rauch in die Hütte blies. Die Kinder waren verwahrlost: Sie kämmten sich in der ganzen Zeit so gut wie nie die Haare, putzten nur höchst selten die Zähne, da dies bei zuckerfreier Ernährung angeblich nicht so wichtig sei, und wuschen sich nur gelegentlich an einem Kuhtrog. Die wenigen Kleidungsstücke, die sie dabei hatten, wurden in den 8 Wochen kein einziges Mal richtig gewaschen.
- Auch die Gesundheitsfürsorge stimmte nicht. Obwohl in den ersten 2 Wochen fast alle Kinder Durchfallerkrankungen hatten und später eine hochfieberhafte Streptokokkenangina die Runde machte, wurde weder ich als Kinderärztin, die sich erboten hatte und außerdem ein „medizinisches Notfallpaket“ auf Bitten des Veranstalters zusammengestellt und mitgegeben hatte, noch ein anderer Kinderarzt je um Rat gefragt. Mein Kleiner unternahm fünf Wochen lang mit einer Streptokokkeninfektion körperliche Höchstanstrengungen. Antibiotika lehnte man nämlich genauso ab wie MPH. All dies erfuhr ich jedoch erst im Nachhinein, da man uns Eltern jeglichen Kontakt zu unseren Kindern untersagte. Angeblich habe man auf der Alm auch keinen Handyempfang – meine Kinder berichteten jedoch, dass man einige Meter von der Hütte entfernt durchaus gut hatte telefonieren können.
- Am Elternbesuchswochenende sind einige Kinder komplett dekompensiert. Sie schüttelten sich vor Heulkrämpfen oder blickten apathisch ins Leere und flehten ihre Eltern an, sie mitzunehmen. Ein 13-jähriger drohte mit Suizid, wenn seine Eltern ihn nicht mitnähmen, was mir als nicht völlig zu unterschätzende Gefahr erschien. Man nahm diese Gefühlsabstürze der ADHSler aber gar nicht wirklich ernst.
- Im Übrigen erschütterte mich auch, wie wenig informiert die Projektleiter über ADHS waren. Man versicherte uns Eltern, man habe ein Ärzteteam im Hintergrund, falls es zu Entzugserscheinungen nach Absetzen der Medikation kommen sollte, was medizinisch ein Quatsch ist. Auch erzählte man mir, meine Söhne hätten gewiss kein ADHS, da sie stundenlang ganz konzentriert Kaulquappen aus dem Bächlein vor der Hütte retten könnten. Man betonte immer wieder, wie wunderbar und einzigartig diese Kinder alle wären, und kehrte die Probleme im Alltag und in der Schule schlichtweg unter den Tisch. Ganz subtil wurde uns wiederholt suggeriert, dass die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder nur durch mangelnde Akzeptanz durch uns Eltern und unsere Erziehungsunfähigkeit zustande kämen.
- Bei den so genannten Elterntrainings handelte es sich im Wesentlichen um spirituelle Kreise, in denen wir angehalten wurden, „traumatische Erlebnisse mit unseren Kindern“ zu berichten und uns alle als Gruppe zusammengehörig zu fühlen. Sie wirkten sehr ideologisch, dabei wenig sachlich und seriös.[46]
Bedauerlich und Besorgnis erregend ist die unkritische Aufnahme, die Hüther mit seinem Alm-Projekt in Journalistenkreisen unterschiedlicher politischer Couleur findet.
So wird diese offenkundige Medieninszenierung des STERN von manchen als Beweis dafür gesehen, dass die zahlreichen, von der Ritalinkritik in Umlauf gesetzten Fehlinformationen über ADHS (insbesondere hinsichtlich einer medikamentösen Behandlung) auf Tatsachen beruhen.
So schreibt etwa Anja Röhl (Stieftochter von Ulrike Meinhof) in der Tageszeitung "Junge Welt" vom 19. November 2009:
[47]
Nur noch schlucken
Wählt man im Hirn immer die falschen Straßen, werden sie breiter: Eine Polemik gegen den massenhaften Ritalin-Konsum
In Zeiten des Massenfernsehkonsums und der »Hartz IV«-Kinderarmut hat sich die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu einer handfesten Massenhysterie ausgewachsen [...]
[...] Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther hat in seinen »Alm-Projekten mit Ritalinentzug« bewiesen, daß einfache Outdoor-Aktivitäten Ritalin ersetzen können. Die Botenstoffunregelmäßigkeiten an den Synapsen sind nicht genetische Ursache der ADHS, sondern Folge von Angst, Vernachlässigung, Fernsehkonsum u.ä.. Verschrieben wird dagegen Ritalin [...] Seelische Probleme von Kindern wurden in der Pädagogik von jeher als Verhaltensstörungen bezeichnet, eine Diagnose, der auch nach Meinung ihrer exponierten Vertreter etwas Diskriminierendes anhaftet, da sie in der Regel aus einem pädagogischen Gefüge heraus gestellt wird (ob jemand die Gemeinschaft stört, unkonzentriert ist, durch Anderssein auffällt) und sich nicht am subjektiven Leiden des einzelnen orientiert. Trotzdem bemühte sich die Wissenschaft der Verhaltensgestörtenpädagogik noch um Ausdifferenzierungen und multifaktorielle Ursachenforschung. Viele Ratschläge liefen auf elterliche Erziehungsbemühungen hinaus. Diese Mühen scheinen sich heute mehr und mehr zu erübrigen. »Verhaltensstörungen« werden unter ADHS subsumiert, die betroffenen Kinder werden über die Eltern zum Ritalinkonsum angeregt. Das künstliche Aufputschmittel bringt sie zum »Wieder-Funktionieren«.
ADHS hat sich ausgebreitet wie eine Seuche. Jeder Arzt weiß nach einer fünfzehnminütigen Kurzdiagnose – ohne jedes pädagogische Wissen, denn er hat ja Medizin studiert –, daß diesem und jenem Kind nur Ritalin helfen kann. Das Eindringen der Medizin in dieses pädagogische Fachgebiet hat zu einer Pathologisierung ungeheuerlichen Ausmaßes geführt und zu einer Verbreitung dieser »Krankheit«, die dem Gesetz folgt, daß da, wo sich Ärzte niederlassen, mehr Menschen krank werden [...]
Zitate
Nach Hüther ist ADHS eine erfundene Krankheit:
- "ADHS ist zunächst nicht mehr als die Bezeichnung für eine Sammlung von Symptomen, die man bei Kindern beobachten kann. Mediziner sind gezwungen, für bestimmte Behandlungen bestimmte Namen zu erfinden. Sie definieren Krankheiten, um die Behandlung bei den Krankenkassen abrechnen zu können, und genau das ist bei ADHS geschehen."[24]
Zur Erblichkeit von ADHS:
- "Das wird von den Protagonisten der orthodoxen Kinder- und Jugendpsychiatrie zwar seit 20 Jahren behauptet. Es gibt dafür aber bis heute keine Beweise, nur Vermutungen. Die Zwillings- und Familienstudien zeigen zwar, dass es Häufungen gibt innerhalb einer Familie. Aber das hat erst mal nichts mit Genetik zu tun. Deshalb muss man diese Studien kritisch hinterfragen."[24]
Zu den Profiteuren von ADHS:
- "Den größten Nutzen ziehen die betroffenen Eltern. Sie haben ein immenses Interesse daran, dass jemand kommt, der sagt: Es ist genetisch bedingt. Es gibt schließlich nichts Schlimmeres für Eltern als die Gefahr, etwas falsch gemacht zu haben. Deshalb werden eine definierte Krankheit und eine entsprechende Behandlung ausdrücklich begrüßt."
- "Die zweite Gruppe sind die Kinder- und Jugendpsychiater, die ihre gesamte Laufbahn dem Umstand verdanken, dass sie Veröffentlichungen gemacht haben, in denen sie oft nichts anderes untersucht haben als den Einsatz von Medikamenten."
- "Dazu kommt die Gruppe der Mediziner draußen auf dem Land, die sich freut, wenn ihnen jemand dankbar ist, weil sie toll kuriert haben, und die auch ein Erfolgserlebnis braucht. Der Effekt zu sehen, dass man nach einer halben Stunde plötzlich ein ausgewechseltes Kind hat, ist schon sehr beeindruckend."
- "Und dann kommt die Pharmaindustrie, die damit gut Geld verdient. Aber die muss sich gar nicht so sehr um die Propagierung ihres Medikaments kümmern, weil die andern so starke Kräfte sind."
- "Nicht zu vergessen die Lehrer! Viele von Ihnen können natürlich mit diesen Kindern überhaupt nichts anfangen. Sie sind froh, wenn sie endlich ruhig werden, egal, womit das geschieht, und wenn dies mit einer Tablette geht, ist ihnen das auch recht."[24]
Wenn man Hans-Reinhard Schmidt Glauben schenken darf, gab Hüther sogar anlässlich einer Veranstaltung in Köln im Jahre 2002 unauthorisiert konkrete Therapieanweisungen zum Umgang mit Methylphenidat. Dazu zunächst Schmidt selbst:
- "In einem wirklich beeindruckenden Vortrag vor ca. 400 Teilnehmern hat Prof. Dr. Hüther heute in Köln Eltern von betroffenen Kindern geraten, Methylphenidat immer nur als Notlösung und nur dann, wenn das Kind ein überentwickeltes dopaminerges System hat, anzuwenden. Auf die Frage, wie lange, meinte er (Prof.Hüther):"
- "Zwei Wochen. Und dann absetzen und im Rahmen einer familienbezogenen Psychotherapie sehen, ob das Kind Fortschritte gemacht hat. Wenn ja, um so besser. Wenn nein, dann Ritalin wieder für ca. 2 Wochen geben (vielleicht schon geringer dosiert), wieder absetzen und nachsehen, welche Fortschritte die Familientherapie macht, und so weiter."[48]
Weblinks
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- http://www.sfi-frankfurt.de/forschung/forschungsfeld-1/therapiewirksamkeitsstudie/projektbeschreibung.html
- http://anonym.to/?http://www.sinn-stiftung.eu/viva-nova---neue-wege-fuer-adhs.html
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Zu den Ursachen von ADHS:
- http://www.web4health.info/de/answers/adhd-patinfo-cause.htm
- http://media.dgkjp.de/mediadb/media/dgkjp/stellungnahmen/adhs2002.pdf
- http://www.welt.de/wissenschaft/article1177711/Die_Ursache_fuer_ADHS_liegt_im_Gehirn.html
- http://www.medizinfo.de/kinder/probleme/ads/ursachen.shtml
- http://www.wissenschaft-online.de/artikel/1007330
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- http://www.kup.at/kup/pdf/7543.pdf
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- ↑ http://www.gerald-huether.de/wissenschaftlich/lebenslauf-von-prof-dr-gerald-huether/taetigkeitsbeschreibung-von-prof-dr-gerald-huether/index.php
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