Re-evaluation Counselling (RC) ist eine Beratungs- bzw. psychotherapeutische Bewegung, die von dem inzwischen verstorbenen US-amerikanischen Gewerkschafter Harvey Jackins begründet wurde und in der Anwendung Techniken der Dianetik und der Scientology mit einer marxistischen und auf Identitätspolitik basierenden Analyse von sozialer Unterdrückung, Rassismus und Sexismus kombiniert. Jackins war in den 1950er Jahren sowohl Organisator für die Dianetik-Bewegung von L. Ron Hubbard wie auch sozialistischer Gewerkschaftsaktivist.

Das Zielklientel der RC sind links orientierte Befreiungsbewegungen, die in den 1960er und 1970er Jahren entstanden, wie z.B. die Frauenbewegung, die anti-rassistische Bewegung etc. RC präsentiert sich seinem Zielpublikum im Allgemeinen als eine Methode, die Techniken emotionalen Loslassens (von Scientology abgeleitet) einsetzt, um Menschen aus Verhaltensmustern zu befreien, die ihnen in der Gesellschaft durch systemischen Rassismus, Sexismus und Klassendenken auferlegt werden. Der Ursprung dieser Techniken in der Dianetik wurde jedoch nicht offengelegt. RC behauptet, das emotionale Loslassen könne Menschen von den Auswirkungen der sozialen Unterdrückung befreien und sie in die Lage versetzen, die Welt zu verändern.

Kurzbiographie des Begründers Harvey Jackins

Harvey Jackins wurde am 28. Juni 1916 im nördlichen Idaho geboren.[1]

Während der 1930er Jahre war er Mitglied der Communist Party of America. Zwischen 1939 und 1941 organsierte er an der University of Washington in Seattle die Young Communist League. Er schloss sein Studium nicht ab, sondern wurde in den 1940er Jahren aktiver Gewerkschafter. Er wurde verschiedentlich wegen angeblicher kommunistischer Aktivitäten von Gewerkschaftsortsvereinen ausgeschlossen, so z.B. vom Local 46 der International Brotherhood of Electrical Workers, aus der Building Service Employees' Union und aus der Lodge 751 der Aero Mechanics' Union.[2] Im Jahr 1954 wurde er vom Un-American Activities Committee im Zuge der Ermittlungen zu kommunistischen Aktivitäten im Raum Pazifischer Nordwesten vorgeladen, nachdem er von drei Zeugen namentlich erwähnt worden war.[3] Jackins zog es vor, sich auf seine Rechte aus dem Fifth Amendment der US-Verfassung zu berufen und weigerte sich, Mitverschwörer namhaft zu machen, obwohl er selbst zu diesem Zeitpunkt bereits von der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden war.[3]

In den frühen 1950er Jahren begann Jackins, für das Dianetics Institute in Seattle zu arbeiten; Anfang der 1960er Jahre hatte er bereits Politik und Psychologie zu einer vermeintlich neuen linken Politik der interpersonellen Beziehungen verbunden. Zu dieser Zeit sah sich Hubbard einem zunehmenden Kontrollverlust über seine Organisation ausgesetzt, in der sich Gruppen gebildet hatten, die seine Theorien mit Okkultismus und Alternativmedizin verbanden. Dieses "Personal Counselling" war zudem ein Versuch, die Organisation innerhalb des Mainstreams der Psychiatrie zu positionieren. Jackins selbst nannte seine Theorie in dieser Zeit "Dianetic Processing".[3]

Bezüge zur Scientology

RC ist nicht Teil der Scientology-Organisation, die Jackins offiziell Mitte der 1950er Jahre verließ, sondern wird teilweise in Anlehnung an die Scientology-Terminologie als Teil der "Free Zone" angesprochen, also derjenigen, die Scientology-Praktiken außerhalb der offiziellen sogenannten Church of Scientology einsetzen. Im Jahr 1957 wandte sich die Church of Scientology sogar brieflich ans FBI und forderte Ermittlungen gegen Harvey Jackins als Kommunisten, der zu diesem Zeitpunkt Scientology bereits verlassen hatte, sich aber weiterhin als Dianetik-Auditor bezeichnete. Das FBI betrachtete Hubbard als Fall für die Psychiatrie und ignorierte die Aufforderung.

Co-counselling

Die hauptsächliche Methode des RC ist das "Co-counselling", bei dem zwei beteiligte Personen abwechselnd die Rolle des Beraters und des Beratenen übernehmen. Es weist einige Ähnlichkeiten zum frühen "Auditing" der Dianetik auf (ca. in den frühen 1950er Jahren), da es neuere Scientology-Praktiken wie z.B. das E-Meter nicht einsetzt, jedoch sollen sich beide Beteiligten als Gleiche in die Sitzung begeben (im Gegensatz zum Auditing der Dianetik, bei dem nur eine Person das Auditing übernimmt und die andere der Auditierte ist). Jede Person wird ermutigt, dem jeweils anderen ihre Erfahrungen mitzuteilen und währenddessen sollen tiefsitzende Problematiken aus ihrer Vergangenheit bloßgelegt werden, die sie dann an die Oberfläche bringen und auf emotionale Weise etwa unter Weinen, Lachen und Zittern ausleben soll. Dies soll angeblich die aus der Vergangenheit stammenden Problematiken "entladen" (discharge) und jeder Person dabei helfen, diese hinter sich zu lassen.

Die Praxis, sich wieder in alte traumatische Erfahrungen hineinzubegeben und sie auszuleben, findet sich in vielen therapeutischen und Selbsthilfedisziplinen und ist nicht auf RC und Scientology begrenzt (ebenso ist sie z.B. anzutreffen in der Gestalt- und Encountertherapie, in der Urschreitherapie und bei einigen psychotherapeutischen Methoden, mit denen die Posttraumatische Stresserkrankung behandelt werden soll). Ihre Wirksamkeit ist in der akademischen Psychologie umstritten; es handelt sich hierbei um ein zwischen den 1950er und 1970er Jahren populäres Konzept.

Die Entwicklung des Re-evaluation Counselling

Jackins stieß in den frühen 1950er Jahren auf L. Ron Hubbards Theorie der Dianetik. Im Jahr 1952 gründete Jackins die Personal Counselors Inc., um "die Kunst und Wissenschaft der Dianetik auszuüben, anzuwenden und zu lehren".[4] Während der Anwendung der Dianetik entwickelte er die Konzepte der "Re-evaluation" und des "Entladens" und nahm an, diese könnten durch den "Austausch der bewussten Aufmerksamkeit" beim "Prozess des Co-counseling" verstärkt werden.[5] Zu dieser Zeit verwendete Jackins einige Begriffe aus der Dianetik wie z.B. "Muster klären", "Rationalität", "Present Time" und "Passing distress by contagion".[6] Der Psychiater Richard M. Childs äußerte, dass Jackins Buch The Human Side of Human Beings (1965) ein Plagiat von Hubbards Dianetik (1950) darstellte und zeigte auf, dass Jackins "Hubbards Terminologie umschrieb und sie in seinem eigenen Jargon neu fasste. Hubbards "Engramme" wurden bei Jackins zu "distress patterns", "release" wurde zu "discharge", und "clear werden" wurde in der RC zu "re-emerge".[7] Im Jahr 1957 monierte Hubbards Scientology-Organisation, dass sich Jackins als "Dianetik-Auditor" bezeichne.[8]

Ende der 1950er und in den frühen 1960er Jahren systematisierte Jackins seine Ansichten und weitete RC in den 1960er/1970er Jahren von Seattle auf den Rest der USA und nach Europa aus. Zwischen 1975 und 1990 ernannte er örtliche Lehrer, Gebietsrepräsentanten, regionale Leiter und Repräsentanten von Gruppen wie Schwarze und Schwule. Er schrieb die RC-Richtlinien und entschied alle größeren Themen. Seine Richtlinien wurden von einer zweijährlich stattfindenden Konferenz ratifiziert. Tourish und Irving verglichen sein Managementsystem mit dem kommunistischen Staatsmodell des demokratischen Zentralismus.[9] Jackins soll auch das Engagement von RC-Mitgliedern in externen Organisationen überwacht haben. Ebenso soll Jackins behauptet haben, dass mehrere Regierungen von der RC beeinflusst worden seien und davon ausgegangen sein, dass Religion schließlich durch das Re-evaluation Counselling ersetzt werde.[10]

Harvey Jackins eigene Darstellung der Ursprünge des Re-evaluation Counselling umgeht jede Erwähnung der Dianetik. Jackins zufolge habe er begonnen, das Re-evaluation Counselling zu entwickeln, nachdem er beobachtete, dass ein in Schwierigkeiten befindlicher Freund seine Gedankenprozesse verändert habe, weil man ihm geduldig zuhörte, während er weinte.[11][12] Auf diese Wirkung des Weinens aufmerksam geworden, habe er mit anderen die Methode einer gegenseitigen Beratung entwickelt, die auf dem Erinnern psychischer und physischer Traumata oder "Verletzungen" basiere, das von verschiedenen Typen emotionaler Katharsis begleitet werde. Diese Wirkungen nannte er "discharge" (wie z.B. im "Entladen" [discharge] einer Batterie] und nahm an, hierdurch werde ein klares Denken bzw. eine "Re-evalutation" ausgelöst. Er meinte, dass rationales Denken durch die Akumulation vergangener Verletzungen verhindert werde und dies könne durch wiederholtes Entladen durch Co-counselling aufgehoben werden. Er nahm an, dass das Re-evaluation Counselling "Unterdrückung" aufheben könne, die das RC als Wurzel der meisten Probleme auf der Welt ansieht.

Kritik und Reaktion auf Kritik

Während der 1980er Jahre kam es seitens von RC-Mitgliedern zu Vorwürfen wegen sexuellen Fehlverhaltens gegen Jackins, das von Vorwürfen der Bevorzugung junger attraktiver Frauen bis hin zu Vergewaltigung ging. Die erste Beschuldigung wegen sexuellen Missbrauchs erfolgte 1981 durch das RC-Mitlied Deborah Curren, deren Behauptungen von der "Seattle Sun" und im lokalen Fernsehsender KIRO-TV aufgegriffen wurden. In der Folge wurde Jackins ferner von der RC-Gruppe Minneapolis-St. Paul heftig kritisiert. Jackins löste die Gruppe auf, woraufhin 45 RC-Mitglieder die Organisation unter Protest verließen. Jackins schrieb: "Das Heranziehen dieser Gerüchte, um mich anzugreifen und durch mich die Community insgesamt, war in den letzten Monaten ein sehr hässliches Problem und es gibt einige Hinweise darauf, dass einige der Schlapphut-Organisationen unserer Regierung und ihre Abteilung für schmutzige Tricks sich daran beteiligten".[4] Curren verklagte Jackins[13], zog die Klage aber wieder zurück, nachdem Jackins vorsorglich Schadenersatzklage gegen sie erhob.[14]

Im Jahr 1989 verließ eine Gruppe von RC-Führern um Daniel le Bon die Organisation und erwähnte in ihrem Rücktrittsschreiben, dass RC keine wissenschaftliche Basis mehr besitze. Daniel le Bon gründete danach eine eigene Organisation namens "Présence à soi", ein Ersatz-RC. Sie führten an, dass Jackins unhaltbare Behauptungen aufstelle, eine dogmatische Haltung einnehme und Beweise ignoriere. Ebenfalls äußerten sie, dass der "Discharge"-Prozess nicht funktioniere und Jackins dies wisse und den Zweck des RC hin zu einer "allgemeinen Befreiung von jeglicher Unterdrückung" erweitert habe.[15]

Mitte der 1990er Jahre geriet Jackins innerhalb des RC unter Kritik für seine Ansicht, dass Homosexualität eine Art des "distress" sei, die aus Misshandlung im Kleinkindalter herrühre und die möglicherweise "ausgeglichen" oder beseitigt werden könne.[16] In einem Artikel aus dem Jahr 1974 mit dem Titel "Ist Homosexualität ein Distress Pattern?" hatte Jackins geäußert, Homosexualität, "zu unterscheiden vom Wunsch zu berühren oder nahe zu sein, ist irrational, ist das Ergebnis von Distress Patterns (häufig im frühen Alter ausgelöst und chronisch) und wird durch die freie Wahl der Person durch ausreichende Entladung und Re-evaluation verschwinden".[3][17] Einige Kritiker verließen daraufhin die Bewegung und gründeten eigene Co-Counselling-Gruppen.

Jackins forderte die Mitglieder des RC auf, Kritik an den RC-Führern zu ignorieren, die er als "Angriffe" betrachtete; er fügte jedoch hinzu, dass Vorschläge willkommen seien. Sein Hinweis wurde in den RC-Richtlinien umgesetzt. RC definiert "Angriffe" als "Versuche, einer Person, in der Regel einem Anführer, oder einer Organisation unter dem Deckmantel der abweichenden Meinung und der Diskussion zu schaden."[3] Personen, die "Angriffe" durchführten, sollten aufgefordert werden, sich zu entschuldigen, und wenn sie dem nicht nachkämen, aufgefordert werden, die Gruppe zu verlassen; ihre Angriffe sollten ignoriert werden.[18] Die Weltkonferenz der Re-evaluation Counselling Communities von 1981 beschloß einstimmig, "den bösartigen Klatsch und die verleumderische Verbreitung schriftlicher Angriffe auf Harvey Jackins zurückzuweisen und zu verurteilen, da sie im völligen Widerspruch zu Geist und Praxis des Re-evaluation Counseling stehen".[4] RC stellt fest:

"Personen, die diese Rolle einnehmen, sollten nicht 'beraten', sondern aufgefordert werden, sich zu entschuldigen und wenn sie dem nicht nachkommen, sollten sie aufgefordert werden, die Gruppe zu verlassen und ihre Angriffe sollen ignoriert werden."[18]
"Um Angriffen gegen RC und dessen Führer zu begegnen, werden RC-Mitglieder angewiesen, diese Person zu unterbrechen, die Beschuldigung als persönliches Problem des Anklägers bezeichnen und die angegriffene Person oder Personen energisch verteidigen."[3]

Engagement in der politischen Linken

Die Gruppe "United to End Racism" ist eine RC-Tarngruppe, die an verschiedenen Konferenzen zur Identitätspolitik teilgenommen und sich auch an antirassistischen Bewegungen wie der Durban World Conference against Racism, am Weltsozialforum in Caracas und an der White Privilege Conference im Jahr 2006 beteiligt hat. RC-Mitglieder werden ebenfalls ermutigt, RC-Prinzipien und -Techniken bei den Aktivistengruppen einzubringen, denen sie angehören, wie z.B. gewerkschaftliche, Umweltschutz- und feministische Organisationen und diese der RC zu öffnen mit dem Vorwand, sie erhöhten durch das "Discharging" ihrer Mitglieder von internalisierter Unterdrückung ihre Wirkung. Die RC-geprägten Konzepte der "internalisierten Unterdrückung" und des "Co-Counseling" haben ebenfalls Eingang in den breiteren Jargon der Psychotherapie und der Selbsthilfebewegungen erlangt.

Weiterführende Information

Anderssprachige Psiram-Artikel

Quellenangaben

  1. http://home.comcast.net/~reevaluation-counseling/documentary_history_pdf%27s.htm
  2. http://home.comcast.net/~reevaluation-counseling/documentary_history_pdf%27s.htm
  3. 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 3,5 Steve Carr, "Attack Theory: Re-Evaluating RC", Polemicist, Volume 3, No. 5, April 1992
  4. 4,0 4,1 4,2 A Documentary History of the Career of Harvey Jackins and Re-evaluation Counseling, Study Group on Psychotherapy Cults, Belgium, 1993
  5. Jackins, Harvey, The human side of human beings, Seattle: Rational Island Publishers, 1965 ISBN 0-911214-60-7
  6. Rich's Home Page - Comparison of Re-evaluation Counseling Terms and concepts with Dianetics
  7. Richard M. Childs, A Psychiatrist's Story of His Brief Involvement with Re-Evaluation Counseling
  8. Letter from Richard F. Steves to the FBI dated 8 October 1957
  9. Dennis Tourish and Pauline Irving, "Group influence and the psychology of cultism within re-evaluation counselling: A critique of Co-Counselling",Psychology Quarterly, Volume 8, Issue 1, 1995, pp.35-50
  10. Europe Resigns
  11. New, Caroline and Kauffman, Katie, Co-Counselling: The Theory and Practice of Re-Evaluation Counselling, 2004, Brunner-Routledge ISBN 1-58391-210-X
  12. Medicine Story, "To Be Human Again - Camps for Peace and Love", Talking Stick, Winter/Spring 2003
  13. Curren v. Jackins, First Amended Complaint for Damages (Superior Court of the State of Washington, King County, Jan. 17, 1990)
  14. Cult Awareness and Information Library
  15. http://home.comcast.net/~reevaluation-counseling/europe.htm
  16. Harvey Jackins on Homosexuality
  17. Jackins, Harvey, The Upward Trend, Seattle: Rational Island Publishers, 1981 ISBN 0-911214-81-X
  18. 18,0 18,1 Re-evaluation Counseling website
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