Die Chelattherapie ist ein umstrittenes Verfahren, das in den 1980er Jahren aus den USA nach Europa transportiert wurde und als Heilverfahren für verschiedenste Indikationen angepriesen wird.

Beworbene Einsatzgebiete

Alzheimer-Krankheit, Senilität, Schizophrenie, rheumatische Arthritis, Osteoarthritis, Gicht, Nierensteine, schlaganfallbedingtes Koma, Gallensteine, Multiple Sklerose, Osteoporose, chronisches Müdigkeitssyndrom, Krampfadern, Bluthochdruck, Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens, Sklerodermie, Raynaud-Syndrom, Digitalisvergiftung, Claudicatio intermittens (Schaufensterkrankheit), diabetische Geschwüre, Durchblutungsstörungen, Geschwüre an den Beinen, giftige Schlangenbisse, Impotenz, emotionale Schwierigkeiten, Seh- und Hörprobleme (Meyer 1998).

Bei der Chelattherapie erhalten die Patienten bis zu 70 intravenöse Infusionen mit EDTA (Äthylendiamintetraessigsäure), wobei oft parallel hochdosierte Gaben von Vitaminen, Spurenelementen, Mineralien und anderen Arzneimitteln beigemischt werden. Die Infusionen dauern 3-4 Stunden und werden 1-2mal wöchentlich vorgenommen. Empfehlungen zur gesunden Lebensführung runden die Therapie ab (Meyer 1998).

Behaupteter Wirkmechanismus

Ansatzpunkt der Chelattherapie ist es angeblich, durch die Bindung von Ca2+ Ionen mittels sog. Chelatbildner (EDTA, D-Penicillamin, Deferoxamin) eine Entkalkung arterosklerotischer Plaques zu erreichen und dadurch die Gefäße wieder geschmeidig zu machen, um die Durchblutung zu fördern. Man wolle 'den Kalk aus den Adern rieseln lassen'. Kalk spielt aber bei der Genese der Plaquebildung in den Gefäßen keine wesentliche Rolle.

Zulassungssituation in Deutschland

In den 1980er Jahren suchten die Befürworter der Chelattherapie in Deutschland der Eindruck zu erwecken, Chelatbildner wie EDTA seien zugelassene Arzneimittel und ihre Therapie somit seriös. So schrieb Martin (1986): 'Wir verfügen in Deutschland über ein beim Bundesgesundheitsamt in Berlin ordnungsgemäß zugelassenes EDTA-Präparat für die Behandlung von Verschlußkrankheiten'. Tatsächlich war das Mittel bereits vor 1976 zugelassen worden war und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem kein Wirksamkeitsnachweis für eine Arzneimittelzulassung in Deutschland notwendig war. Das entsprechende Präparat hatte damals auch nur eine Zulassung für ganz bestimmte Indikationen (z.B. diagnostischer Bleitest und Therapie akuter, chronischer und latenter Bleivergiftungen, Entfernung von Schwermetallen wie Blei, Cadmium, Kobalt, Kupfer, Nickel, Chrom, Mangan, Quecksilber, Vanadium und Zink und von Radioisotopen wie Uran). Für Gefäßerkrankungen oder die anderen möglichen Indikationen, die von Chelattherapeuten behauptet wurden, war das Mittel nicht zugelassen (Meyer 1998).

Studienlage

Bei klinischen Voruntersuchungen wiesen Guldager et al. (1993) nach, dass die Gabe von EDTA in einem doppelblinden randomisierten placebokontrollierten (Placebo: NaCl 0.9%) Versuch am Menschen keinen Einfluß auf die Serumspiegel von Cholesterin, LDL, HDL und Triglyceriden hatte. In der Folge wurde in einer weiteren randomisierten placebokontrollierten Doppelblindstudie bei 80 Patienten (EDTA) bzw. 79 Patienten (Placebo: NaCl 0.9%) versucht, deren Claudicatio intermittens mittels Chelattherapie erfolgreich zu behandeln. Obwohl alle Patienten instruiert wurden, das Rauchen zu unterlassen, körperliches Training durchzuführen, Diätregeln einzuhalten und das Gewicht zu reduzieren, gab es keine Unterschiede zwischen der EDTA- und Placebotherapie nach 20 Injektionen im Verlauf von 5-9 Wochen (eine Infusion dauerte 3-4 Stunden). Weder die schmerzfrei von den Patienten zurückzulegende Wegstrecke (in Metern), noch die maximale Wegstrecke oder die subjektive Befindlichkeit, einige Laborparameter oder Nebenwirkungen waren zwischen beiden Studienarmen verschieden (Sloth-Nielsen et al. 1991). Van Rij et al. (1994) untersuchten ebenfalls in einem placebokontrolliertem Versuch die Wegstrecke von Claudicatio intermittens-Patienten und fanden heraus, dass es keinen Unterschied zwischen einer EDTA- und Placebo-behandelten Gruppe gab. Pikanterweise verbesserte sich die Wegstrecke sogar um 60% in beiden Studienarmen, was auf einen erheblichen Placeboeffekt solcher Therapieformen schließen lässt. Die Erwartungshaltung der Patienten wird demnach durch eine scheinbar wirksame Behandlung unterstützt und motivationsbedingt erreichen die Patienten längere Wegstrecken. Deshalb wird es immer Patienten geben, die aus einer Chelattherapie Nutzen ziehen, der aber mit EDTA oder dem jeweiligen Chelatbildner in Wirklichkeit nichts zu tun hat, nicht vorhersehbar ist und auch nicht reproduzierbar sein muß (Meyer 1998).

Schwere Nebenwirkungen

Die Therapie mit Chelatbildnern ist nicht harmlos. So gibt es seit Jahrzehnten immer wieder Berichte über schwere Nebenwirkungen, die in der Fachliteratur beschrieben werden. Peterson (1983) beschrieb einen Fall mit schwerer Vaskulitis (Gefäßentzündung) unter EDTA-Therapie, dessen tödlicher Ausgang nur mit einer schnellen operativen Intervention verhindert werden konnte. Auch beschrieb dieser Autor einen Fall mit hämolytischer Anämie und konsekutivem Herzinfarkt. Proksch und Kölmel (1985) beschrieben akute psychiatrische Komplikationen (Depression, Gedächtnisstörungen, Verschlechterung einer Demenz) nach EDTA-Therapie, die auf einen massiven EDTA-bedingten Zinkverlust zurückzuführen waren.

Nissel (1986) beschrieb den dramatischen Verlauf eines 77jährigen Patienten mit seit Jahren zunehmenden arteriosklerotischen Gefäßveränderungen, der über 3 Wochen Chelatbildner-Infusionen erhalten hatte. Sieben Stunden nach der letzten Infusion mußte der Mann aufgrund einer hochgradigen Hypokalzämie mit ausgeprägtem Hirnödem in eine Klinik eingeliefert werden, wo er trotz intensivtherapeutischer Maßnahmen verstarb.

In den USA gibt es Fälle, wo diese Therapie ebenfalls zum Tod des Patienten führte. Ein Arzt wurde in Texas dazu verurteilt, die sagenhafte Strafe von $ 2.150.000 zu bezahlen. Er hatte die Herzerkrankung des im Jahre 1992 im Alter von 61 Jahren verstorbenen Frank Vecchio, Inhaber der Del Vecchio Foods Distribution Company, erfolglos mit der unwirksamen Chelattherapie behandelt (NCAHF 1996).

Zwerling und Estes (1993) berichteten über zwei Patienten, bei denen sich ein Ast der Arteria centralis retinae unter der EDTA-Therapie verschloß und die Sehfähigkeit eingeschränkt war. Nach Absetzen des EDTAs war diese Nebenwirkung nur in geringem Umfang reversibel.

Chelattherapie ist nutzlos und gefährlich

Die Chelattherapie ist unwirksam und zudem gefährlich für den Patienten. Allerdings ist mit ihr ein exzellentes Geschäft zu machen. Chelattherapeutisch tätige Ärzte können pro Behandlungsserie bis zu DM 6.000 verlangen (Federspiel und Herbst 1996).

Die Chelattherapie zur Behandlung vaskulärer Erkrankungen wurde bereits vom National Institut of Health als unwirksam abgelehnt wurde (NCAHF-Newsletter, 19, 2, 1996). Die American Medical Association (1983), der Wissenschaftliche Beitrag der Bundesärztekammer (Wolff und Scheler 1984) und auch die National Heart Foundation of New Zealand (Swinburn 1995) gaben negative Stellungnahmen und Bewertungen zur Chelattherapie ab.

Literatur

  • Ernst E. Deaths associated with EDTA chelation therapy - a systematic review. Perfusion 2009, 22(1) 9-11

Quellennachweise

  • American Medical Association: Chelation therapy. JAMA, 250, 672, 1983
  • Federspiel K, Herbst V: Die Andere Medizin. Nutzen und Risiken sanfter Heilmethoden. Stiftung Warentest Verlag, 4. Aufl., S.217, 1996
  • Guldager B, Foergeman O, Jorgensen SJ, Nexo E, Jelnes R: Disodium-ethylene diamine tretaacetic acid (EDTA) has no effect on blood lipids in atherosclerotic patients. Dan Med Bull, 40, 625-627, 1993
  • Martin CD: Die Chelattherapie. Universitas Verlag, 1986
  • Meyer FP: Über die 'Omnipotenz' der Chelattherapie. Forsch Komplementärmed, 5, 266-271, 1998
  • NCAHF: Newsletter, 19, 2, 1996
  • Nissel H: Arteriosklerose und Chelattherapie. Wien Med Wochenschr, 136, 586-588, 1986
  • Peterson GR: Adverse effects of chelation therapy. JAMA, 250, 2926, 1983
  • Rij AM van, Solomon C, Packer SGK, Hopkins WG: Chelation therapy for intermittent claudication. Circulation, 90, 1194-1199, 1994
  • Sloth-Nielsen J, Guldager B, Mouritzen C, Lund EB, Egeblad M, Nrregaard O, Jorgensen SJ, Jelnes R: Arteriographic findings in EDTA chelation therapy on peripheral arteriosclerosis. Am J Surg, 162, 122-125, 1991
  • Swinburn BA: Randomised trial of chelation therapy. N Zeal Med J, 108, 20, 1995
  • Wolff HP, Scheler F: Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer und der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft: Wie sicher und wirksam ist die sogenannte Chelattherapie bei der Behandlung atherosklerotischer Gefäß-Erkrankungen? Dtsch Ärztebl, 81, 436, 1984
  • Zwerling CS, Estes EH: Branch retinal artery occlusion. A possible adverse effect of chelation therapy. N C Med J, 54, 172-174, 1993
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