Piercingpunktur

Daith Piercing
Warnung der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) vor der Piercingpunktur (2016)[1]

Piercingpunktur (von Piercing und Akupunktur) ist die Bezeichnung für alternativmedizinische Behandlungen, bei denen Piercingschmuck zu pseudomedizinischen und Wellness-Zwecken zum Einsatz kommt, insbesondere gegen die Migräne (dann auch als "Daith Piercing" oder "Migräne Piercing" bezeichnet). Die Mode entstand in den neunziger Jahren in den USA. Ein wissenschaftlicher Nachweis für relevante positive Wirkungen auf die Gesundheit durch Piercings ist unbekannt.

Der deutsche Allgemeinmediziner Marc-Christian Rösler, der 2016 auf die Methode aufmerksam gemacht wurde, kündigte an, eine wissenschaftliche Studie zum Thema zu erstellen. Bisher gemachte Angaben zu dieser geplanten Studie zeigen, dass es sich nicht um eine kontrollierte (placebo-kontrolliert) oder randomisierte und verblindete Studie handeln soll, sondern lediglich um eine beobachtende Studie (Anwendungsbeobachtung), die allerdings dann aus methodischen Gründen keinerlei Nachweis einer Wirksamkeit erbringen kann. Eine derartige Studie wäre unter bestimmten optimalen Bedingungen lediglich in der Lage, eine Unbedenklichkeit der Methode nahezulegen.

Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) warnte 2016 vor einer Anwendung von Piercings zur Behandlung der Mirgräne.[2] Laut DMKG beruhe die Piercingbehandlung am Ohr ".. auf keiner nachvollziehbaren pathophysiologischen Grundlage.." Die Gesellschaft warnte auch gleichzeitig vor entsprechenden Behandlungen gegen den Clusterkopfschmerz und wies auf unerwünschte Wirkungen und Schäden durch Piercings am Ohr hin. Demnach könne es zu verzögerten Wundheilungen und ".. kosmetisch unschöner Verformung der Ohrmuschel.." kommen.
Bisherige Studien aus der Akupunkturforschung zeigen, dass sowohl Akupunktur als auch Scheinakupunktur nur einen Einfluss auf die Migräne haben, was auf Placeboeffekte hindeutet.

Ärztliche Befürworter der Akupunktur der Lobbyvereinigung Deutsche Ärztegesellschaft für Akkupunktur (DÄGFA) lehnten in einer Stellungnahme das "Migräne-Piercing" ebenfalls ab. Zitat: ".. Ohrpiercing führt je nach Lokalisation im ungünstigsten Fall zu einem Verlust des therapeutisch nutzbaren Korrespondenzpunktes (z.B. Auge in der Mitte des Lobulus) ..". Auch komme es durch das Piercing zu einem Dauerreiz, gegen den der Körper abstumpfe. Außerdem stelle das Migräne-Piercing "einen justitiablen Verstoß gegen das Heilpraktikergesetz dar".[3]

Auch der Verband Professioneller Piercer (VPP) sprach sich gegen ein "Migräne-Piercing" aus: "Wir vertreten einstimmig die Auffassung dass eine kurzfristige Verbesserung von Beschwerden im besten Falle durch einen Placeboeffekt ausgelöst werden kann und nicht von Dauer sein wird. Akkupunkturpunkte durch ein Piercing dauerhaft zu stimulieren erscheint uns als wenig erfolgversprechend und wir vertreten einstimmig die Meinung dass es überaus unseriös ist, mit der Hoffnung der Menschen auf Besserung zu spielen und durch gezielte Werbung in diesem Bereich Profit zu machen..[4]

Methode und Vermarktung

 
Stefan Bau (Künstlername Steve Pierce) bei der Vorstellung des Migräne-Piercing bei Youtube

Im Jahre 2015 machten Werbebotschaften im Internet auf ein "Daith"-Piercing durch Stefan Bau (Künstlername "Steve Pierce") aus Böblingen bei Stuttgart aufmerksam. Der aus Sachsen-Anhalt stammende Bau war zuvor Soldat eines deutschen Fallschirmjägerbatallions, Autoverkäufer und Bestatter. Den Gerüchten zufolge sei es möglich, mit Piercings an einem so genannten "O-Punkt" am Ohr die Kopfschmerzen einer Migräne im Sinne einer "Dauerakupunktur" am Ohr behandeln zu können. In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff "Migräne-Piercing" verbreitet, insbesondere über facebook. Steve Pierce legte dazu auch eine eigene Webseite migraene-piercing.de sowie weitere zu piercingpunktur an (siehe Diskussionsseite dieses Artikels). Auch wurde anekdotenhaft von ausgesuchten Fällen einer angeblichen Besserung der Migräne durch Piercingpunktur berichtet (Beispiel: Frau kam mehr oder weniger schreiend vor Schmerzen ins Studio, wurde dann ohnmächtig, der Piercer musste sie zur Liege tragen. Dort wurde sie gepierct, hat das gar nicht mitbekommen, wachte auf und die Schmerzen waren verschwunden). Bei facebook werden hingegen Berichte über enttäuschende Resultate oder Hilferufe verzweifelter Kunden gelöscht, Kommentare deaktiviert und Leute aus der Gruppe verwiesen.

Der Anbieter des "Daith Piercing" bzw. "Migräne Piercing" in Deutschland, Stefan Bau, reagierte über facebook mit Unverständnis auf Kritik an der Piercingpunktur. Er bezeichnete die Kritik an der Methode als "Hetze" gegen sein Migräne-Piercing:

"Hallo Freunde, wie einige von euch sicher mitbekommen haben ist nach nicht mal einem Jahr inzwischen ein regelrechter Kampf entbrannt zwischen uns ( www.piercingpunktur.de ) und den deutschlandweit bekanntesten Schmerzkliniken. Diese hetzen gegen meine Arbeit in Bezug auf das "Migräne Piercing"...Ihr könnt das Rad nicht mehr aufhalten. Wenn man mich juristisch mundtot machen will.. dann bilde ich in Zukunft kostenlos jeden Piercer aus der Interesse hat. Das Rad ist nicht aufzuhalten, egal wie viele Artikel ihr schreibt. Selbst wenn ich meine Arbeit nicht mehr machen dürfte und selbst wenn meine Freundin Bettina oder die DMKG, wie bereits angekündigt gegen mich klagen würde, selbst wenn man mir meine Arbeit verbieten würde. Mir egal, und wenn ich jeden Monat umsonst neue Piercer ausbilde. Damit werde ich nicht aufhören. Im Gegenteil, ich war Soldat, je mehr man mich bekämpft desto mehr kämpfe ich. Wenn man mir alles nehmen sollte, habe nichts mehr zu verlieren desto leichter ist es zu kämpfen. Also liegt es an euch. Für euch sind wir eine "Modeerscheinung" und ihr hofft uns mit euren paar Artikeln stoppen zu können. Das ist zu spät!.."

Der genannte Steve Pierce behauptet auch zum Auffinden eines optimalen Piercingorts ein Elektroakupunkturgerät einzusetzen. Ein Video zeigt, dass er dazu ein Gerät namens Stimplus einsetzt, das in der Werbung als "acupucture pen" bezeichnet wird (Akupunkturstift). Die regionale Presse nahm das Thema auf und beispielsweise die Stuttgarter Zeitung berichtete darüber.

Daith-Piercing

Das Daith-Piercing entstand ursprünglich 1992 in den USA (siehe Wikipedia-Eintrag zu Daith Piercing) und bezieht sich auf das Stechen in eine Knorpelfalte direkt über dem Hörgang. Diese Knorpelfalte ist nicht bei jedem Menschen so stark ausgebildet, dass ein Piercing möglich ist. Piercings an diesem Ort sind für Kunden relativ schmerzhaft, die Heilungsdauer beträgt zwischen drei und sechs Monaten. Der Name Daith Piercing stammt von Erfinder der Methode, Erik Dakota. Er bezog sich dabei auf das hebräische Wort “Daath” (Weisheit; Intelligenz).

Medizin: Gefahren durch Piercings

Über möglichen Gesundheitsschäden durch Piercing und Piercingschmuck liegt umfangreiche zitierbare Literatur vor.[5][6][7][8] Piercen ist ein invasives Verfahren, bei dem die Haut durchtrennt wird. Ein Risiko besteht beim Setzen des Piercings in einer Blutung durch Verletzung von Gefäßen. Unerwünschte Folgen sind starke Blutungen, Knorpelnekrosen, Nervenschädigungen oder Verletzungen von Organen wie der Harnröhre oder Lippen. Auch Infektionen können gesetzt werden. Eine Sarkoidose kann reaktiviert werden.

Piercings in Knorpelregionen (das Ohr besteht zu einem großen Teil aus schlecht durchblutetem Knorpelgewebe) können zu Knorpelnekrosen führen, z.B. am Ohrknorpel, mit der Folge einer kosmetisch unschönen Verformung der Ohrmuschel. Piercings können auch eine Nickelallergie auslösen. Der Ohrlochstich am Ohrläppchen ist bekanntermaßen die häufigste Sensibilisierungsquelle gegenüber Nickel. Die Hälfte der Frauen mit Ohrlochstich und Nickel-Ohrringen erwirbt darüber eine Nickelallergie, die lebenslang persistiert.

Alternativmedizin: Meridianblockaden durch Piercings

 
Angebliche Störungen durch Piercingschmuck am Ohr (Bild: DHZ 2009, [9])

In der Akupunkturszene sind auch Ansichten verbreitet, nach denen Piercingschuck keine heilenden Eigenschaften habe, sondern im Gegenteil Auslöser von Befindlichkeitsstörungen und Krankheiten sei. Die Rede ist dann von angeblichen Meridianblockaden durch Piercingschmuck an Orten, an denen die bislang hypothetisch gebliebenen "Meridiane" aus der traditionellen chinesischen Medizin vermutet werden. In Deutschland werden diese Behauptungen beispielsweise von Befürwortern der Akupunktmassage nach Penzel aufgestellt. Diese behaupten explizit, dass von Ohrschmuck Beschwerden wie "Übererregbarkeit, Herzrhythmusstörungen, Bronchialerkrankungen, Ess- und Verdauungsprobleme" und Rückenschmerzen ausgingen. Angeboten werden dann pseudomedizinische "Piercingentstörungen".

Die "Deutsche Heilpraktikerzeitung" (DHZ) berichtete 2009 in einem Artikel über angebliche Krankheiten und Störungen, die das Ergebnis von Piercings am Ohr und anderer Regionen seien.[10] Zitat DHZ 2009:

"Liebe Patientin, lieber Patient!
Jugendliche drängen Eltern ihnen zu erlauben, sich an Gesicht, Bauchnabel, Brust und vielen anderen Körperstellen piercen zu dürfen. An bestimmten Punkten können nach den Vorstellungen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) Piercings die Energieflussbahnen (Meridiane) des Körpers unterbrechen und damit unter Umständen Migräne, Allergien, Unfruchtbarkeit und andere Erkrankungen auslösen. Welche Stellen am Körper daher nicht gepierct werden sollten, und welche Beschwerden entstehen können, wenn die dort befindlichen Meridiane durch ein Piercing blockiert werden, finden Sie hier nach Körperregion aufgelistet."

Auch der deutsche Verein Deutsche Akademie für Akupunktur (DAA e. V.) wandte sich 2010 gegen Piercing, in diesem Falle am Bauchnabel (Zitat):

"Aus der Akupunktur her wissen wir, dass ein Nabelpiercing eine wichtige Energielinie (Meridian) unterbricht, die genau in der Körpermitte von unten nach oben bis zum Schädeldach verläuft. Diese Linie läuft dann am Hinterkopf und über den Rücken wieder herunter.
Unterversorgung mit Energie kann sich äußern als häufige Blasenentzündung, Rückenschmerzen, Leistungsabfall, Erkältungen, Kieferhöhlenentzündungen..
[11]

Ein wissenschaftlicher Nachweis für die behaupteten Zusammenhänge wird genauso wenig gegeben wie für die entsprechend positiven Effekte wie sie von Bau und anderen behauptet werden. Der hier gemeinte Begriff einer Blockade findet sich nur in der alternativmedizinischen Literatur, die Existenz so genannter Meridiane ist zudem hypothetisch geblieben.

Zitate

  • ..Da das Wort "Migräne Piercing" angeblich bereits durch die Wortwahl ein Heilversprechen asoziieren kann,benutzen wir dieses Bezeichnung nicht. Wir machen nur eine "Piercingpunktur am Migränepunkt"!.. (Zitat Steve Pierce)

Wortmarken

Die Wortmarkte Migräne Piercing wurde 2016 auf den Namen von Stefan Bau beantragt.

Siehe auch

Weblinks

Quellennachweise

  1. http://www.dmkg.de/therapie-empfehlungen/migraene/die-dmkg-warnt-piercing-ist-nicht-zur-therapie-der-migraene-geeignet.html
  2. http://www.dmkg.de/therapie-empfehlungen/migraene/die-dmkg-warnt-piercing-ist-nicht-zur-therapie-der-migraene-geeignet.html
  3. http://vpp-piercing.de/piercing-gegen-migraene/
  4. http://vpp-piercing.de/piercing-gegen-migraene/ Orthografie und Interpunktion wie im Original
  5. Zylke-Menhorn W. Piercing. Die rechtliche Situation. Deutsches Ärzteblatt 2008; 105: A1546
  6. Sigmund-Schulze N. Piercing. Unter die Haut: Körperschmuck mit Risiken. Deutsches Ärzteblatt 2008; 105: A1542-1544
  7. Ghersetich I. Body Modifying Art. Adverse effects and complications. Int J Anti-Aging Med 2014; 4: 63-69
  8. Bone A, Ncube F, Noah ND. Body piercing in England: a survey of piercing at sites other than earlobe. BMJ 2008; 336: 1426-1428
  9. Ruhbach A. Propädeutik der Ohrakupunktur. 3. überarb. Aufl . Stuttgart: Hippokrates; 2009.
  10. Artikel Patienteninformation: Meridianblockaden durch Piercings und ihre gesundheitlichen Auswirkungen, DHZ, 2009, 5, 45
  11. http://www.akupunktur-patienten.de/patienten/behandlungserfolge/behandlungserfolge-details//article/macht-mich-mein-piercing-krank.html