Natürlichkeit bedeutet in pseudomedizinischen und esoterischen Kreisen die Unverfälschtheit und Ursprünglichkeit einer Methode oder eines Produktes. Dabei dient der Begriff "Natürlichkeit" der Bezeichnung von etwas Positivem und der Abgrenzung von etwas Künstlichem und Verfälschtem als etwas Negativem. Natürlichkeit wird meist mit "Sanftheit" und "Ganzheitlichkeit" in Verbindung gebracht und dient als Begründung dafür, weshalb angeblich oder tatsächlich alte, und/oder exotische bzw. veraltete Ansichten und Methoden angewendet werden.

Was ist natürlich?

Natur (lat.: natura, von nasci „entstehen, geboren werden“) bezeichnet in der Alltagssprache alles, was nicht vom Menschen geschaffen wurde. Somit bildet Natur den Gegenbegriff von Kultur und Technik. Dennoch ist die Abgrenzung sehr schwierig, denn Natur ist auch überall da anzutreffen, wo sich der Mensch befindet, denn jeder verfügbare Lebensraum wird besiedelt, unabhängig davon, ob dieser vom Menschen geschaffen bzw. beeinflusst wurde/wird oder nicht. Beispielsweise ist Erdöl ganz natürlich, weil es ohne Zutun des Menschen entstanden ist, während es im Allgemeinverständnis eher als etwas Unnatürliches gesehen wird. Kulturlandschaften weisen eine hohe Artendiversität auf, obwohl sie nach diesem Verständnis nicht natürlich sind. Selbst die "unnatürlichsten" Habitate, wie z.B. Weltraumstationen, werden von Lebewesen spontan, d.h. ohne Willen des Menschen, besiedelt.

Der "natürliche" Wald

Der europäische Wald war vor der letzten großen Eiszeit, die vor ca. 2,5 Millionen Jahren begann, sehr artenreich. Es wuchsen neben jenen Bäumen, die heute bei uns vorkommen, u.a. Magnolie, Tulpenbaum, Mammutbaum, Amberbaum, Rhododendron. Während der Eiszeit sind die Wälder in unserem Raum weitgehend verschwunden. Mit deren Ende vor ca. 10.000 Jahren breitete sich der Wald über weite Gebiete wieder aus, allerdings waren diese Forste wesentlich artenärmer.

Vor 8000 Jahren besiedelten die ersten Ackerbauern nach und nach Europa und verdrängten mit der Zeit die Jäger und Sammler. Die ersten Bauern rodeten ein Stück Wald, blieben dort vermutlich eine Generation sesshaft, um danach weiterzuziehen. Diese Stellen wurden in der Folge vom Wald rasch überwuchert, aber nie mehr so, wie er vor der Besiedlung zusammengesetzt war. Besonders in Lößgebieten wurde im Laufe der Zeit spätestens bis zum Mittelalter jede Waldparzelle, die dafür geeignet war, mindestens einmal vom Menschen gerodet. Dort, wo einmal Ackerbau betrieben wurde, konnte nie mehr ein natürlich zu nennender Wald entstehen.

Das Holz wurde in der Folge extensiv als Baustoff, zum Heizen, als Werkstoff, zum Schmelzen von Erzen, im Schiffsbau, zum Gerben, in der Salzgewinnung, zur Glasproduktion und als Viehweide (Wiesen gab es noch nicht) verwendet. Die Aufforstung war noch unbekannt, so dass sich keine Wälder mehr bilden konnten. Das Holz wurde spätestens mit Beginn der Neuzeit knapp, man ergriff Sparmaßnahmen, in dem man etwa Stein- und Fachwerkhäuser errichtete und den offenen Herd durch den Kachelofen ersetzte. In den Bauernkriegen, aber auch im Dreißigjährigen Krieg war Holzmangel ein wesentlicher Motivator, zudem stand sogar die Existenz der Städte auf dem Spiel.

Schließlich forderte man im 18. Jh. erstmals zum Pflanzen von Jungbäumen auf, weiters errichtete man die ersten Viehweiden, was den Wald schonte. Gepflanzt wurden in erster Linie Fichten und Kiefern, selbst dort, wo sie natürlicherweise gar nicht vorkamen, etwa im Schwarzwald. Man erkannte bald, dass die Pflanzungen viel zu dicht erfolgten, dem deshalb erforderlichen Ausforsten hat unser Weihnachtsbaum seine Existenz zu verdanken. In den Fichtenwäldern legte man Lichtungen für das Vieh an. Das, was uns heute oft als Lichtung (mit kleinen Dörfern) in Form von Rodungsinseln erscheint, ist nicht geschlagen, sondern wurde nur nicht wiederbewaldet. Erstmals kamen Hasen und Rehe in größerem Ausmaß vor, was im ursprünglich geschlossenen Wald nicht der Fall war. Sehr bald wurden diesen neuen Wälder als immer schon bestehend und natürlich angesehen und generell das Land außerhalb der Städte mit "Natur" inklusive deren Bewohner romantisierend gleichgesetzt. Auch Landstriche, die aufgrund des menschlichen Eingriffes völlig umgestaltet wurden, wie etwa die Lüneburger Heide, wurden später unter Naturschutz gestellt, obwohl sie gar nicht natürlich sind. Dies war die Zeit, in der sich der Mythos vom deutschen Wald, gestützt auch auf die Erzählungen des Tacitus über die schaurigen Wälder Germaniens, bilden konnte. Die wilden Tiere fanden sich aber nie so sehr in den europäischen Wäldern, denn in Grimms Märchenbüchern.

Zusammenfassung: Europas Wald der Voreiszeit (Tertiär) war ähnlich vielfältig wie die heutigen Wälder in Nordamerika und Ostasien. Es war „die Natur“ selbst, die in Europa diesen Wald und die darin lebenden Tiere während der Eiszeit nicht nur fast völlig ausgerottet hat, sondern „sie“ hat auch dafür „gesorgt“, dass der Wald nach der Eiszeit, viel artenärmer wieder entstanden ist. Erst jetzt hat der Mensch, um sein Überleben zu sichern, eingegriffen und weite Gebiete entwaldet, um erst später einen neuen, wiederum veränderten Wald, den wir als „natürlich“ erleben, geschaffen. Unser west- und mitteleuropäischer Wald ist, vereinfacht formuliert, ein Park.

Ist die Natur sanft?

In Esoterikkreisen kommt der Begriff "natürlich" häufig in Kombination mit "sanft" vor. Dennoch ist die Natur keineswegs sanft. Bedingt durch zahlreiche Wechselwirkungen zwischen den Organismen verschiedener Arten, innerhalb der gleichen Art oder zwischen Populationen kommt es zu Situationen, in denen das Wohlergehen oder Überleben des Individuums gefährdet ist. Daraus resultiert Leiden, Tod, aber auch das Überleben derjenigen, die mit den Bedingungen am besten zurechtkommen, also letztendlich das Funktionieren von Ökosystemen und der Evolution.

Um sich gegen Angriffe und Gefahren zu wehren, sind im Laufe der Evolution zahlreiche Abwehrmechanismen entstanden. Pflanzen z.B., die nicht flüchten können, müssen sich entweder sehr schnell vermehren, sehr regenerationsfähig oder möglichst unbekömmlich sein, um nicht durch Fraßfeinde vernichtet zu werden. Erstere sind als "Unkräuter" bekannt, letztere als Giftpflanzen, aber auch als Arzneipflanzen.

In der Natur sind Krankheiten eine ernste Gefahr für ein Tier; wenn es nicht zur spontanen Heilung kommt, wird das Tier sterben. Auch bei leichteren Erkrankungen leidet die Fitness des Tieres, das dadurch leichter zur Beute von Feinden wird oder selbst nicht in der Lage ist zu jagen. Dieser Mechanismus ist für die Population durchaus sinnvoll, denn damit scheidet ein potentieller Krankheitsüberträger aus.

Zumal zu bedenken ist, dass Bezeichnungen wie „gerecht“, „sanft“ von und für Menschen geschaffen wurden. Die Natur, verstanden als Summe aller biotischen und abiotischen Vorgänge, ist selbst kein denkendes und handelndes Subjekt, sie kann nicht gerecht, zornig, sanft und was auch immer sein. Genausowenig schlägt „die Natur“ zurück, wenn man eine Hand auf die heiße Herdplatte legt.

Ein weiteres Beispiel stellt der in der Tierwelt weit verbreitete Infantizid dar, also die Tötung eines Jungtieres durch den jeweiligen Rudelführer. Dieses Verhalten mit unseren kulturell entwickelten Werten als “inhuman” etc. zu bezeichnet, ist nicht sachgerecht und führt in die Irre.

Von Kritikern der Tierhaltung werden immer wieder tierquälerische Haltungs- und Schlachtbedingungen thematisiert und auf natürliche Haltungsformen verwiesen. Abgesehen von den tatsächlichen Misständen in der Tierhaltung hat ein Tier in der Natur keineswegs bessere Bedingungen. Dies lässt sich zum einen indirekt an der geringeren Lebenserwartung in der Wildnis erkennen, zum anderen ist es direkt beobachtbar: Hyänen fressen Gnus bei lebendigem Leib, von Parasiten befallene Tiere verenden elend, Nahrungsmangel, extreme Wettererscheinungen töten usw. Hier existieren zahlreiche Leiden, die denen in der Massentierhaltung in nichts nachstehen.[1][2][3]

Somit ist der in Esoterikkreisen gebräuchliche Begriff der Natürlichkeit ein Auswuchs eines von der realen Natur entfremdeten, romantischen Verständnisses der Natur.

Natürliche Ernährung

In Kreisen "ökologisch" orientierter Menschen werden derzeitige Nahrungsmittel als "degeneriert" und vitaminarm dargestellt. Zum einen dient dieses Argument der Vermarktung von Nahrungsergänzungsmitteln, andererseits der von Lebensmitteln aus ökologischem Anbau unter Verwendung alter Kultursorten und -rassen.

Es existieren zahlreiche Ernährungsideologien, von denen jede von sich selbst behauptet, sie sei die ursprünglich natürliche Ernährung des Menschen. Beispiele sind: Urkost, Rohkost und Steinzeitdiät sowie teilweise Veganismus. Schon unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, verzehren nicht nur Fleisch, sondern gehen sogar auf die Jagd. Anthropologen gehen davon aus, dass zur evolutionären Entstehung des Menschen ein möglichst hoher Fleischanteil erforderlich gewesen sein muss. Das Gehirn sei so auf Kosten des Verdauungstraktes gewachsen. Schon in dieser Zeit ernährten sich unsere Vorfahren als Jäger und Sammler, somit von Mischkost. Aufgrund des jahreszeitlich schwankenden Nahrungsangebotes gab es regelmäßig auch Hungerperioden, wie das auch noch bei den heute lebenden Jägern und Sammlern der Fall ist. Schon sehr früh müssen unsere Vorfahren ihre Nahrung auch gekocht haben, weshalb manche Forscher vom "kochenden Affen" sprechen. Mit der Sesshaftwerdung, also der Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht, kam es zu einem spürbaren qualitativen Nahrungsmangel, der offensichtlich in Kauf genommen wurde, um die stark angewachsene Zahl von Menschen ernähren zu können. Wir haben Grund zur Annahme, dass sich die ersten Bauern sehr einseitig ernährt haben, was sich auf den Gesundheitszustand und damit auf die Lebenserwartung massiv negativ ausgewirkt hat. Die heute als Jäger und Sammler lebenden Buschmänner ernähren sich von 75 und mehr verschiedenen Arten von Wildpflanzen. Erst unsere moderne Ernährung war in der Lage, die jahrtausendelange Fehlernährung zu kompensieren, wir werden größer, gesünder und leben länger. Aber selbst die modernen Griechen haben heute noch nicht die Körpergröße erreicht, die sie vor Einführung der Landwirtschaft erlangt hatten.

Der Begriff "natürliche Ernährung" steht oft in Zusammenhang mit frei sein von Konservierungsstoffen.

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Natürlichkeit in der Medizin

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Siehe auch

Quellenverzeichnis

Literatur

  • Simon Schama: Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination, Kindler 1996, ISBN 978-3463401782
  • Richard Pott: Farbatlas Waldlandschaften, Ulmer 1993, ISBN 978-3800134694
  • Hasel: Forstgeschichte, Kessel 2002, ISBN 978-3935638265
  • Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa, Beck 2010, ISBN 978-3406608490
  • Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes, Beck 2008, ISBN 978-3406502798
  • Gerhard Lang: Quartäre Vegetationsgeschichte Europas, Spektrum Akademischer Verlag (1994), ISBN 978-3827406255
  • Jens Lüning: Siedlungen der Steinzeit. Haus, Festung und Kult, Spektrum Akademischer Verlag (1999), ISBN 978-3922508489
  • Felix v. Hornstein: Wald und Mensch - Waldgeschichte des Alpenvorlandes Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, Otto Maier Verlag, 1984
  • Weyergraf: Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, Akademie der Künste, 1987; ISBN 978-3883319520