Mythos einer 10% Nutzung des Gehirns: Unterschied zwischen den Versionen

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Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren auch tatsächlich (gegenüber heute) erst etwa zehn Prozent der Hirnsubstanz einer bestimmten oder mehreren Funktionen zugeordnet, was mit zum Mythos der damaligen Zeit beigetragen haben mag.
 
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren auch tatsächlich (gegenüber heute) erst etwa zehn Prozent der Hirnsubstanz einer bestimmten oder mehreren Funktionen zugeordnet, was mit zum Mythos der damaligen Zeit beigetragen haben mag.
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Einen mutmaßlichen physiologischen Beweis lieferte Anfang des 19. Jahrhunderts der französische Neurophysiologe Marie-Jean-Pierre Flourens, als er entdeckte, dass man Vögeln und Fröschen große Teile des Gehirns entfernen konnte, wobei diese danach noch zu basalen Verhaltensweisen (Fressen und Trinken) fähig waren. Die eindeutigen Ergebnisse dieser Experimente sind allerdings nicht auf den Menschen übertragbar, da die Methodik relativ merkwürdig war und die Gehirnstruktur der Versuchstiere sich nur bedingt mit der des Menschen vergleichen lässt.<ref>http://www.nytimes.com/2014/08/03/opinion/sunday/three-myths-about-the-brain.html?_r=1</ref><ref>https://www.youtube.com/watch?v=pbnPr8NQzXg</ref>
  
 
Lange wurde angenommen, dass nur etwa 10% aller im Hirn zu findenden Zellen Neuronen sind, die anderen Zellen werden zusammenfassend als Gliazellen bezeichnet. Auch diese Beobachtung mag mit zum Mythos geführt haben (als populäre Unterscheidung zwischen "grauer" und "nichtgrauer" Substanz). Das zahlenmäßige Verhältnis von Neuronen zur Gesamtzellzahl des Hirns ist jedoch im Zusammenhang mit dem hier thematisierten Mythos natürlich bedeutungslos, auch wenn manche Gliazellen eine nachgewiesene Hilfsfunktion ausüben. Der bekannte Neuroanatom Santiago Ramón y Cajal hat das Zahlenverhältnis zwischen Neuronen und Nichtneuronen festgestellt (1:9). Inzwischen gilt ein Verhältnis von Neuronen- zu Gliazellen von etwa 1:1 als realistischer.<ref>Herculano-Houzel, S.: The human brain in numbers: a linearly scaled-up primate brain. Frontiers in Human Neuroscience 3 (2009) [http://dx.doi.org/10.3389/neuro.09.031.2009 Volltext]</ref>
 
Lange wurde angenommen, dass nur etwa 10% aller im Hirn zu findenden Zellen Neuronen sind, die anderen Zellen werden zusammenfassend als Gliazellen bezeichnet. Auch diese Beobachtung mag mit zum Mythos geführt haben (als populäre Unterscheidung zwischen "grauer" und "nichtgrauer" Substanz). Das zahlenmäßige Verhältnis von Neuronen zur Gesamtzellzahl des Hirns ist jedoch im Zusammenhang mit dem hier thematisierten Mythos natürlich bedeutungslos, auch wenn manche Gliazellen eine nachgewiesene Hilfsfunktion ausüben. Der bekannte Neuroanatom Santiago Ramón y Cajal hat das Zahlenverhältnis zwischen Neuronen und Nichtneuronen festgestellt (1:9). Inzwischen gilt ein Verhältnis von Neuronen- zu Gliazellen von etwa 1:1 als realistischer.<ref>Herculano-Houzel, S.: The human brain in numbers: a linearly scaled-up primate brain. Frontiers in Human Neuroscience 3 (2009) [http://dx.doi.org/10.3389/neuro.09.031.2009 Volltext]</ref>

Version vom 29. Mai 2016, 15:37 Uhr

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Laut einer seit Jahren kursierenden "urban legend" (bzw. Mär) würde der Mensch durchschnittlich nur etwa 10 Prozent seiner zur Verfügung stehenden Hirnleistung nutzen, und demnach würden die restlichen 90 Prozent quasi "brachliegen". Im englischen Sprachraum, wo diese Mär populärer als im deutschsprachigen Raum ist, wird in diesem Zusammenhang vom Ten percent of brain myth gesprochen.

Diese außerwissenschaftliche Mär ist vor allem im Bereich von Psychomarkt-Angeboten geläufig und entspricht nicht dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Kenntnisse zur Neurophysiologie oder Neurobiologie. Die Behauptung suggeriert die Möglichkeit einer enormen Steigerung kognitiver Leistungen, indem durch geeignete Methoden ein größerer Teil Gehirns als die angeblichen 10% aktiviert wird. Die Mär soll offenbar leichtgläubige und beeindruckbare Kunden für kostenpflichtige Motivationskurse motivieren. Insbesondere werden die Behauptungen seit mehreren Jahrzehnten von Scientology am Leben erhalten.

Von Seiten der Behaupter werden keine belastbaren Quellen zu diesen Behauptungen genannt.

Tatsächlich ist es so, dass keine Hirnareale beim gesunden erwachsenen Menschen bekannt sind, die funktionslos wären.[1][2][3] Anhänger dieser "urban legend" nennen auch keine Areale, die funktionslos wären.

Bei einer 90%igen Funktionslosigkeit des Hirns müssten Hirnschäden andere Auswirkungen haben, als sie tatsächlich beobachtet werden. Da das Hirn eines der Organe mit dem höchsten Sauerstoffverbrauch und Energieverbrauch ist, bleibt aus Sicht der Evolution unverständlich, warum der heutige Mensch sich ein derart "verschwenderisches" Organ leisten sollte. Funktionelle radiologische Verfahren, die stoffwechselaktive Bereiche des Hirns anzeigen, ermöglichen es auch bei gesunden Menschen im Schlaf zu zeigen, dass im Gegensatz zu hirngeschädigten Menschen sämtliche Bereiche aktiv sind.

Ursprünge

Die Ursprünge werden verschiedenen Personen in den Mund gelegt, häufig beispielsweise dem Physiker Albert Einstein, der jedoch weder Arzt noch Biologe war. Ein Einstein zugeschriebenes Zitat nährt auch eher die Vermutung, dass er sich bereits über den Mythos vom unterbeschäftigten Gehirn lustig gemacht hat: "Die meisten Menschen nutzen nur fünf bis sechs Prozent ihrer Gehirnkapazität. Ich nutze sieben Prozent!"

1890, vor 120 Jahren, formulierten die US-amerikanischen Psychologen William James (1908: We are making use of only a small part of our possible mental and physical resources) und Boris Sidis eine Hypothese der "reserve energy". Nach dieser Hypothese sei es durch die Einflussnahme auf die kindliche Entwicklung möglich, den IQ-Wert bei den späteren Erwachsenen auf 250 bis 300 zu steigern. Dies wurde 1936 vom Autor Lowell Thomas wieder aufgenommen, und dieser formulierte eine persönliche Ansicht, nach der der Durchschnittsmensch nur zehn Prozent seiner Hirnleistung nutze.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren auch tatsächlich (gegenüber heute) erst etwa zehn Prozent der Hirnsubstanz einer bestimmten oder mehreren Funktionen zugeordnet, was mit zum Mythos der damaligen Zeit beigetragen haben mag.

Einen mutmaßlichen physiologischen Beweis lieferte Anfang des 19. Jahrhunderts der französische Neurophysiologe Marie-Jean-Pierre Flourens, als er entdeckte, dass man Vögeln und Fröschen große Teile des Gehirns entfernen konnte, wobei diese danach noch zu basalen Verhaltensweisen (Fressen und Trinken) fähig waren. Die eindeutigen Ergebnisse dieser Experimente sind allerdings nicht auf den Menschen übertragbar, da die Methodik relativ merkwürdig war und die Gehirnstruktur der Versuchstiere sich nur bedingt mit der des Menschen vergleichen lässt.[4][5]

Lange wurde angenommen, dass nur etwa 10% aller im Hirn zu findenden Zellen Neuronen sind, die anderen Zellen werden zusammenfassend als Gliazellen bezeichnet. Auch diese Beobachtung mag mit zum Mythos geführt haben (als populäre Unterscheidung zwischen "grauer" und "nichtgrauer" Substanz). Das zahlenmäßige Verhältnis von Neuronen zur Gesamtzellzahl des Hirns ist jedoch im Zusammenhang mit dem hier thematisierten Mythos natürlich bedeutungslos, auch wenn manche Gliazellen eine nachgewiesene Hilfsfunktion ausüben. Der bekannte Neuroanatom Santiago Ramón y Cajal hat das Zahlenverhältnis zwischen Neuronen und Nichtneuronen festgestellt (1:9). Inzwischen gilt ein Verhältnis von Neuronen- zu Gliazellen von etwa 1:1 als realistischer.[6]

Literatur

  • Barry L. Beyerstein, Whence Cometh: the Myth that We Only Use 10% of our Brains?. Sergio Della Sala. Mind Myths: Exploring Popular Assumptions About the Mind and Brain. Verlag Wiley. S. 3–24
  • Berit Uhlmann: Wie viel Gehirn braucht der Mensch?, Süddeutsche Zeitung, 11. August 2008. Volltext

Siehe auch

Weblinks

Quellennachweise