Artikel in der SonntagsZeitung Seite 65-66 vom 8.11.2009

Die Angst vor Gebrechen und Nebenwirkungen von Medikamenten kann massiv schaden

Von Sabine Olff

Mit einer Überdosis Tabletten wollte sich der junge Amerikaner das Leben nehmen. 29 Kapseln eines Antidepressivums schluckte er. Sein Blutdruck sackte dramatisch ab, er musste notfallmässig ins Spital eingeliefert werden. Dort stellten die Ärzte fest, dass der Mann Proband in einer Medikamentenstudie war und zu jener Hälfte der Patienten gehörte, die nur ein Scheinmedikament und kein Antidepressivum erhalten hatte. Er hatte also 29 Placebo-Kapseln intus, sprich: nichts. Als er davon erfuhr, verschwanden sämtliche Symptome schlagartig. Der Fall, der vor zwei Jahren im Fachblatt «General Hospital Psychiatry» publiziert wurde, gilt inzwischen als Paradebeispiel für den Nocebo-Effekt (Nocebo, lateinisch: ich werde schaden). Er ist das böse und wenig bekannte Geschwisterchen des Placebo-Effekts: Allein negative Erwartungen und Gedanken können Symptome hervorrufen, womöglich sogar krank machen und tödlich sein.

In Placebo-Gruppen klagt jeder Fünfte über Nebenwirkungen

Vor allem für Medikamentennebenwirkungen ist belegt, dass allein der Glaube daran zu entsprechenden Symptomen führen kann. Marburger Wissenschaftler haben kürzlich beobachtet, dass bei Probanden aus Placebogruppen, die glaubten ein bestimmtes Antidepressivum geschluckt zu haben, die dafür typischen Nebenwirkungen auch auftraten. Für ihre Übersichtsarbeit begutachteten die Forscher 143 Studien und 13 000 Patientendaten. «Die spezifische Nocebo-Wirkung hat uns überrascht», sagt Yvonne Nestoriuc von der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Marburg. Ähnliches ergab eine Analyse von Fabrizio Benedetti von der Universität Turin. Er und Kollegen nahmen 73 Studien mit drei verschiedenen Migränemitteln unter die Lupe. Dabei stellten sie in den Placebogruppen beispielsweise fest, dass nur die Anti-Epileptika-Placebos den Appetit der Probanden drosselten und zu Gedächtnisstörungen führten. Laut Nestoriuc klagt etwa jeder fünfte Proband in einer Placebogruppe über Nebenwirkungen. Ob es bestimmte Persönlichkeitstypen gibt, die besonders empfänglich für den Nocebo-Effekt sind, wird derzeit untersucht. «Ängstlichkeit und Depressivität sind begünstigende Faktoren», sagt sie. Und: Frauen seien tendenziell etwas leichter zu beeinflussen als Männer.

Auch Worte allein können den Nocebo-Effekt anknipsen

Das belegt beispielsweise eine US-Studie, in der Studierende glaubten, ein Umweltgift einzuatmen - dabei war das ausströmende Gas ungefährlich. Ein Teil der Gruppe beobachtete eine schauspielernde Frau, die die Gase inhaliert hatte und der es offensichtlich schlecht ging. Die Folge: Einige Studierende zeigten die gleichen Symptome; alle waren weiblich. Auch Worte allein können den Nocebo-Effekt anknipsen. So stellten Radiologen von der Harvard University in Boston fest, dass Äusserungen vor einer Untersuchung wie «Gleich tuts mal ein bisschen weh» dazu führen, dass die Patienten deutlich mehr Schmerzen haben als ohne den Hinweis. Der Turiner Neurowissenschaftler Benedetti ist davon überzeugt, das biochemische Gegenstück für die «schmerzlichen Worte» gefunden zu haben. Seine These: Die Angst vor dem Schmerz nimmt mit der Schmerzankündigung zu. Diese Angst sei der entscheidende Auslöser. Sie setzt zwei Reaktionsketten im Gehirn in Gang, wodurch Schmerzen leichter übertragen werden. Blockiert man diese Prozesse etwa mit Benzodiazepinen, tut die angekündigte Prozedur viel weniger weh. Benedetti: «Wie solche Angstblocker in der Schmerztherapie genutzt werden können, wird jetzt getestet.» Schmerzen sind derzeit der am besten untersuchte und verstandene Nocebo-Effekt. Nur wenig weiss man hingegen darüber, ob Ängste und negative Erwartungen auch krank machen und womöglich sogar zum Tod führen können. «Es gibt haufenweise Anekdoten», sagt Paul Enck, Forschungsleiter in der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universitätsklinik Tübingen. Beispielsweise sollen Menschen gestorben sein, nur weil sie davon überzeugt waren, dass sie ein Voodoo-Zauberer zum Tode verurteilt hat. Wissenschaftlich dokumentiert sind solche Fälle nicht.

«Depressionen verschlechtern den Verlauf vieler Krankheiten»

Glaubwürdiger sind für Enck Berichte über Patienten, die eine falsche Diagnose erhalten haben. Zum Beispiel Krebs. «Die informieren sich über die Symptome», sagt er, «und kriegen sie dann auch.» In den Fünfzigerjahren konfrontierte man laut Enck Patienten sogar bewusst mit der falschen Diagnose Darmkrebs und untersuchte endoskopisch, ob sich dabei die Darmschleimhaut verändert. Sie tat es. Heute sind solche Studien nicht mehr möglich. Keine Ethikkomission würde «ja» dazu sagen. Enck: «Der Nocebo-Forschung sind deshalb enge Grenzen gesetzt.» Kein Wunder deshalb, dass es nur wenige Daten über krankmachende Nocebo-Effekte gibt. Eine US-Studie weist jedoch darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit, an einem Herzschlag zu sterben, für Frauen höher ist, wenn sie glauben, dass sie besonders anfällig dafür sind. Man wisse zudem, dass negative Gedanken das Immunsystem schwächen können, sagt Enck. In Familien, in denen es einen Todesfall gab, kam es unter den Familienmitgliedern gehäuft zu Infektionen. Dass der Krankheitsverlauf durch schlechte Gedanken beeinflusst werden kann, ist besser belegt. So haben Infarktpatienten mit einer negativen Grundeinstellung ein höheres Risiko für einen erneuten Herzschlag als Optimisten. Oder: In einer aktuellen Studie im Fachmagazin «Cancer» sind depressive Krebspatienten eher gestorben als psychisch gesunde. «Depressionen verschlechtern den Verlauf bei vielen Krankheiten», fasst die Psychologin Nestoriuc zusammen. Sie glaubt nicht daran, dass negative Gedanken allein krank machen können. «Die Suggestionen können aber ein auslösender Faktor unter vielen sein.» Das gelte für die verschiedensten Leiden.

Lügen darf der Arzt nicht - aber etwas verschweigen

Auch wenn die Datenlage dünn ist, hat das Wissen um die Macht der Suggestionen bereits Konsequenzen für die ärztliche Praxis. «Wir brauchen gute Kommunikatoren», sagt Enck. «Leichtsinnig dahergeredete Verdachtsdiagnosen sollten Ärzte tunlichst vermeiden.» Die fallen häufig, etwa im hektischen Alltag nach einer Operation. Hört der Patient das Wort Tumor, steht für viele die Diagnose bereits fest: Krebs. Dabei kann ein Tumor auch gutartig sein. Sollten Ärzte vielleicht sogar lügen, um Patienten vor negativen Gedanken zu schützen? «Nein», sagt Wolf Langewitz von der Abteilung für Psychosomatik am Universitätsspital Basel. «Wir haben die Pflicht aufzuklären.» Aber bei schwerwiegenden Diagnosen dürfe man auch mal etwas verschweigen. «Das muss von Fall zu Fall entschieden werden.» Im Umgang mit Medikamentennebenwirkungen empfiehlt er offensiv zu informieren und darauf hinzuweisen, dass bei einer unerwünschten Wirkung auch der Nocebo-Effekt am Werk sein kann.


Placeboeffekt: Droge Arzt

Scheintherapien werden als Placebos bezeichnet, ihre positiven Wirkungen als Placeboeffekt. Mit der richtigen Kommunikation kann der Arzt den Effekt deutlich verstärken. Das zeigt eine US-Studie mit rund 250 Patienten mit Reizdarm- Syndrom: Die erste Gruppe wurde auf eine Warteliste gesetzt, die zweite bekam eine Placebo-Aku- punktur ohne Einstich, wobei der Arzt spärlich kommunizierte. Diese Akupunktur kam auch in der drit- ten Gruppe zum Einsatz, der Arzt nahm sich aber viel Zeit: Er hörte zu, fragte nach, war zuversichtlich, dass die Therapie wirkt. Nach drei Wochen und sechs Akupunktur- Sitzungen waren die Ergebnisse eindrücklich: In der ersten Gruppe reduzierten sich die Schmerzen um 28, in der zweiten um 44, in der dritten um 62 Prozent.

Publiziert am 08.11.2009 in der SonntagsZeitung Seite 65+66


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