Cold Reading („kalte Deutung“, auch Sensory Leakage) ist ursprünglich der von professionellen Zauberkünstlern verwendete Fachausdruck für verschiedene Techniken, in Interview-artigen Situationen ohne wirkliches Wissen über den Gesprächspartner bei diesem den Eindruck eines vorhandenen Wissens zu erwecken. In neuerer Zeit wird der Begriff auch für entsprechende Praktiken bei Wahrsagern und anderen „Lebensberatern“ sowie in Vernehmungen oder bei Verkaufsgesprächen gebraucht, wobei unklar ist, inwiefern die Ausübenden diese Techniken bewusst einsetzen oder an den Besitz besonderer Fähigkeiten glauben.

Zum Cold Reading zählen verschiedene praktische Ansätze, darunter:

  • Analyse des Erscheinungsbilds des Gesprächspartners: durch offene Merkmale wie Kleidung, Frisur, Körperhaltung und Sprechweise gibt der Gesprächspartner bereits viele Informationen über sich preis, welche die nachfolgenden Schritte erleichtern.
  • Verwendung von Allgemeinplätzen: durch die Verwendung von allgemeinen Floskeln, die viele für sich als wahr empfinden, steigt das Vertrauen und der Eindruck. Siehe Barnum-Effekt.
  • Angebot einer großen Zahl an Optionen: werden ausreichend allgemeine Optionen angeboten und der betroffene Kreis nicht eingeschränkt, ist statistisch das Zutreffen sehr wahrscheinlich.

Durch Beobachtung des Gesprächspartners sowie seiner Antworten und entsprechende Anpassung des weiteren Gesprächsverlaufs lassen sich auf diese Weise viele Informationen erhalten, auf deren Grundlage scheinbar überraschend zutreffende Aussagen möglich sind. Eine wichtige Voraussetzung ist dabei die positive Erwartungshaltung des Interviewpartners.

„[...] based upon events which occur in the vast majority of human lives yet, adroitly stated, the reading will become personalized and the person receiving the reading will be willing to believe that the seer has correctly told the past and probably foreseen the future.“ William W. Larsen, zitiert nach Dutton (1988)
(„[...] obwohl aus Ereignissen zusammengestellt, die in den allermeisten menschlichen Biographien vorkommen, wird die Deutung bei geschicktem Vortrag auf die eigene Person bezogen, und der Adressat wird bereit sein zu glauben, dass der Seher die Vergangenheit korrekt wiedergegeben und möglicherweise die Zukunft vorhergesehen hat.“)

Der verwandte Begriff des Hot Readings beschreibt die Technik, sich (meist heimlich oder durch Helfer) Informationen über einen Gesprächspartner bereits vor dem Gespräch zu beschaffen, um dadurch den Eindruck zu erwecken, auf übernatürlichem Wege Wissen erlangen zu können.

Vorgehensweise

Egal ob Wahrsagen, Hand- oder Fußlesen oder Planetenkonstellationen etc. für die Deutung von Schicksalen, Charakteren oder Diagnosen genutzt wird - im Grunde funktioniert das so:

Erstmal braucht es dafür etwas Übung, gute Menschenkenntnis und auch eine gewisse Portion Chuzpe. Begonnen wird zunächst mit ganz schwammigen, allgemeingültigen Aussagen. Sie sollten auf möglichst viele Menschen zutreffen ("Sie sind mit ihrem Äußeren nicht völlig zufrieden, obwohl andere Ihre Makel kaum wahrnehmen", "Sie fragen sich manchmal, was andere von Ihnen denken" etc.). Sie sind dabei allerdings umso wirkungsvoller, je mehr sie nach individuellen Aussagen klingen; da ist etwas Kreativität und wie gesagt Menschenkenntnis nötig. Zum Beispiel gibt es unglaublich viele Menschen, die insgeheim davon träumen, mal ein Buch zu schreiben, aber die meisten glauben, das wäre etwas außergewöhnliches.

Außerdem sollten die Aussagen dem Gegenüber schmeicheln, das glaubt man immer am liebsten ("Sie sind intelligenter als die meisten Menschen"). Besonders geeignet sind auch Sowohl-als-auch-Aussagen ("Sie sind gerne unter Menschen, aber haben auch ganz gerne mal Ihre Ruhe."). Man legt sich also vorher so einen Vorrat an Allgemeinaussagen zurecht. Das nennt man Stockreading.

Während man relativ wahllos solche Deutungen äußert, wird der Gegenüber gut beobachtet. Wie alt ist er ungefähr? Wie ist er/sie gekleidet? Gepflegt? Eher nachlässig? Modebewusst? Sportlich? Fallen besondere Merkmale auf? Wie ist die Haut? Blass? Gebräunt? etc.

Außerdem wird die Reaktion auf die getätigten Aussagen beobachtet: wo hellt sich die Miene auf? Wo trifft man besonders gut? Mit etwas Übung kann man das ganz gut erkennen. Ein leichtes Stirnrunzeln bei dieser oder jener Aussage? Ok - falsche Richtung. Und so tastet man sich dann vor - was man trifft, baut man aus.

Dafür ist umfangreiches Wissen in Sachen Statistik sehr hilfreich. Professioneller Cold Reader bedienen sich daher gerne statistischer Jahrbücher: Wann waren welche Vornamen am beliebtesten? Welches sind die häufigsten Krankenheiten in welchen Altersgruppen?

Bei alldem ist wichtig, möglichst selbstsicher und nicht zu zögerlich aufzutreten. Man darf keine Angst haben, mal daneben zu liegen. In der Regel werden die Fehltritte kaum wahrgenommen - ein spektakulärer Treffer und die sind wie weggeblasen. Hinzu kommt, dass natürlich über die Fehltritte kaum berichtet wird, das verzerrt das Bild enorm und das ist der Grund warum Aussagen a la "Du, der hat sofort gewusst, dass ich letztes Jahr Gallensteine hatte!!!" als Anekdoten eigentlich wenig beeindruckend. Auch bei sonstigen Zaubertricks wird sich tatsächlich einfach häufig auf statistische Wahrscheinlichkeiten verlassen. Das kann der doch gar nicht gewusst haben! - Hat er auch nicht, er hat schlicht und einfach geraten. Das geht bei genügend Versuchen natürlich auch mal schief, aber das bleibt halt nicht hängen.

Dass das funktioniert und eine enorme Wirkung haben kann, ist zweifellos ungemein faszinierend, aber als Erklärung braucht man dafür weder Magie, noch irgendwelche ominösen Verbindungen zwischen Körperteilen und dem Kosmos oder sonstigem, die seltsamerweise auch niemand näher charakterisieren kann.

Literatur

  • Denis L. Dutton (1988): The cold reading technique. Experientia 44, S. 326-332 (Internet)
  • Ray Hyman (2007): Cold Reading. In: Skeptiker - Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken, Seite 4 - 12
  • Günter Molz (2007): Die psychologische Analyse des „Cold Reading“ durch Ray Hyman – 30 Jahre danach, In: Skeptiker - Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken, Seite 13 - 15.
  • Wiseman R, Morris RL (1995). Guidelines for testing psychic claimants. Prometheus Books


Dieser Text ist teilweise oder vollständig der deutschen Wikipedia entnommen