Biorhythmik nach Fließ

Die Biorhythmik nach Fließ (Biorhythmus) ist ein überholtes pseudomedizinisches Konzept, das von dem Berliner Hals-Nasen-Ohren-Arzt Wilhelm Fließ (1858-1928), einem Brieffreund Sigmund Freuds, entwickelt wurde. Er war der Ansicht, bei seinen Patienten liefen rhythmische Prozesse ab, die zu Krankheiten führten. Diese Vorstellung hat keinerlei Gemeinsamkeiten mit der modernen Chronobiologie, die sich auf wissenschaftlicher Basis mit Biorhythmen beschäftigt.

Die drei Rhythmusformen

Nach der Fließ'schen Theorie durchläuft jeder Mensch eine 23-tägige 'Körperperiode' und eine 28-tägige 'Seelenperiode'. Das Thema wurde von Hermann Swoboda, einem Psychologen an der Universität Wien, aufgegriffen. Fließ und Swoboda entwickelten die Zahlengrundlage für den 23-tägigen 'männlichen' Zyklus der körperlichen Fähigkeiten und den 28-tägigen 'weiblichen' Zyklus der Stimmungslagen (nicht identisch mit dem weniger exakten, dafür aber tatsächlich vorhandenen Menstruations-Zyklus). Den weniger wichtigen 33-tägigen 'intellektuellen' Zyklus erdachte in den 1920er Jahren Alfred Teltscher, ein Ingenieur aus Innsbruck. In den 1930er Jahren lebte das allgemeine Interesse in den Vereinigten Staaten wieder auf, ohne sich jedoch über den Zweiten Weltkrieg hinaus halten zu können. Wenige heute lebende Menschen haben die maßgebliche Quelle dieser Theorie gelesen, nämlich Teltschers 1906 veröffentlichtes Werk.

Kennzeichnend für die Fließ'sche Theorie ist, dass die drei Periodenlängen für alle Menschen gleich sein sollen und zwar unabhängig von deren Alter, Geschlecht oder Gesundheitszustand. Jede Periodenlänge besteht aus einer bestimmten Anzahl vollständiger Tage, so als ob ein innerer Mechanismus die Tag-Nacht-Zyklen zähle.

Eine Überprüfung dieser kindlich-magischen Denkwelt des Fließ mit logischen Maßstäben ergibt zeitliche Divergenzen. Der empfindliche Zeitplan für zwei- und dreifache Koinzidenzen würde nämlich im Lauf eines langen Lebens drastisch untergraben, wenn die drei Periodenlängen durch Zahlen wie 28.02 ± 0.04 Tage dividiert werden. Dies wäre notwendig, da das Jahr nicht exakt aus 365 Tagen besteht. Daher gibt es die 28 vollständigen Unterbrechungen der von Fließ und Kollegen kalkulierten Erde-Sonne-Uhr nicht.

In der Fließ'schen Denkwelt beginnen die postulierten Zyklen mit dem Tag der Geburt, gleichgültig, ob diese durch den Kaiserschnitt des Chirurgen oder auf die normale Weise zustande kam und unabhängig davon, ob der Geburtsvorgang sich vielleicht über Mitternacht hinaus erstreckte. Auch wird dabei ignoriert, dass der Mensch bereits zu entstehen beginnt, wenn Samen und Eizelle verschmelzen. Weitere Probleme bestehen z.B., wenn Vielflieger die Datumsgrenze passieren (z.B. beim Flug nach Fernost), Forscher am Polarkreis leben oder Menschen als U-Bootfahrer oder Seemann Dienst versehen, da diese die Perioden korrigieren müssten, weil das Datum nicht mehr stimmt.

Tage, an denen zwei oder drei der genannten Rhythmen ihren Durchschnittswert kreuzen (aufwärts oder abwärts laufend), sollen angeblich gefährlich sein, weil Unfälle häufiger aufträten. Tage, an denen zwei Zyklen unter ihren Durchschnittswert gelangen bzw. einer seinen Gipfel erreicht, während der andere seinen tiefsten Punkt durchläuft, sind angeblich ebenfalls gefährlich.

Vermarktung

In den USA wurde die Fließ'sche Lehre vermarktet. George S. Thommen publizierte zwei Bücher zu diesem Thema, die später in zahlreichen Überarbeitungen und Neuauflagen mehrfach neu herausgegeben wurden.[1][2] Später wurde er Vorsitzender einer Firma, die tabellarische Hilfsmittel und Rechner zu dieser Methode verkauft. Gegenwärtig wird in Anzeigen ein Computerservice für die Berechnung und Darstellung biorhythmischer Daten beworben; die Firma Casio z.B. bietet Biorhythmus-Rechner an.

Kritik

Die Thesen der Biorhythmus-Lehre halten keiner Nachprüfung stand. Die Theorien stützen sich überwiegend auf anekdotisches Material, ungenügend kontrollierte Statistiken und unveröffentlichte Quellen. Trotzdem könnte man unvoreingenommen durchaus fragen, ob die Theorie der Biorhythmik nicht doch zutreffe. Fluggesellschaften, Militär sowie Menschen, die für die Unfallverhütung in der Industrie verantwortlich sind, glaubten immerhin, dass eine genaue Nachforschung der Mühe wert sei. So wurden in den 1970er Jahren in einem Dutzend unabhängiger Studien annähernd 40.000 sorgfältig dokumentierte Fälle von Selbstmord und von Unfällen verschiedener Art mit den vom Geburtsdatum abhängigen Voraussagen der Biorhythmik verglichen. Man fand jedoch keinerlei Korrelationen. Eine Gruppe von Untersuchern bemerkte abschließend, dass Individuen sicher gute und schlechte Tage haben; das Auftreten dieser Tage lässt sich aber nicht mit der Theorie der Biorhythmik voraussagen. An den vorhergesagten Tagen erleben und beschreiben Menschen nur dann mehr Unannehmlichkeiten, wenn sie durch die Prognose darauf eingestellt sind und diese erwarten.[3]

Literatur

  • Fließ W: Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen, in ihrer biologischen Bedeutung dargestellt. Deuticke Verlag, Leipzig, 1897

Quellennachweise

  1. Thommen GS: Is this your day? How biorhythm helps you determine your life cycles. Crown Ltd, New York, 1964
  2. Thommen GS: Biorhythms: is this your day? How you can chart your ups and downs for weeks, months, and even years ahead. Crown Ltd, 1st rev. Ed., New York, 1987
  3. Winfree AT: The timing of biological clocks. Heidelberg, Spektrum-Bibliothek, Bd. 17, 1987