Erfundenes Mittelalter

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Erfundenes Mittelalter oder Phantomzeit ist die Bezeichnung für eine These aus dem Bereich der Chronologiekritik, nach der ein etwa 300 Jahre langer Abschnitt des Frühmittelalters in Wirklichkeit nicht existierte, sondern nachträglich erfunden wurde. Personen wie z.B. Karl der Große seien infolgedessen ebenfalls Erfindungen. Von Geschichtswissenschaftlern werden diese Überlegungen als fehlerhaft zurückgewiesen.

Als Urheber des Erfundenen Mittelalters gilt der Volksschullehrer Wilhelm Kammeier (1889-1959), der die Vorstellung in den 1920er und 1930er Jahren entwickelte. Verbreitet wird sie in Deutschland vor allem seit etwa 1992 von Heribert Illig. Gemäß seiner Fantomzeittheorie (FZT) sollen die 297 Jahre der Geschichtsschreibung von September 614 bis August 911 nicht stattgefunden haben.

Aspekte von Heribert Illigs Thesen

Gregorianischer Kalender

Ausgangspunkt von Illigs These ist die Kalenderreform durch Papst Gregor XIII. Im Oktober 1582 wurde eine neue Regelung für Schaltjahre eingeführt sowie 10 Tage im Kalender "übersprungen".[1] Da das bis dahin gebräuchliche Julianische Kalenderjahr mit durchschnittlich 365,25 Tagen um etwa 11 Minuten länger ist als das astronomische tropische Jahr, verschob sich der astronomische Frühlingsanfang etwa alle 130 Jahre um einen Tag auf ein früheres Kalenderdatum. Anlass für die Korrektur war allerdings nicht die Verschiebung des Äquinoktikums (Tagundnachtgleiche) im Kalender, sondern die zunehmende Schwierigkeit mit der darauf basierenden Berechnung des Osterdatums.

Illig zufolge hätten zur Korrektur nicht 10, sondern 13 Tage übersprungen werden müssen, woraus er das Fehlen von rund 300 Jahren ableitet. Das ist jedoch falsch, denn der Bezugspunkt für die Gregorianische Kalenderreform war nicht das Jahr Null oder das Jahr 46 (Einführung des Julianischen Kalenders), sondern das Jahr 325, in dem der 21. März als Frühlingsbeginn für die Berechnung des Osterdatums festgelegt wurde.

Archäologie

Illig behauptet pauschal, dass kaum archäologische Funde aus dem 6. bis 10. Jahrhundert existieren und das wenige Material falsch datiert sei. Dies wird aber durch die Forschung widerlegt. Beispielweise findet sich in Paderborn eine ununterbrochene Folge archäologischer Schichten, die den fraglichen Zeitraum umfasst.

Architektur

Anhänger der Phantomzeit argumentieren damit, dass vermeintlich in diesem Zeitraum entstandene Bauwerke anachronistische Merkmale aufwiesen (Materialien, Bearbeitungsmethoden, künstlerische Darstellungen), die eine spätere Errichtung belegen würden. Für die Aachener Pfalzkapelle beispielsweise sollen solche Befunde den Bau um das Jahr 1100 statt 800 nahelegen.

Urkunden

Durch die Umstellung von Majuskelschrift auf Minuskelschrift vom 10. bis ins 13. Jahrhundert seien viele Urkunden neu geschrieben und die Originale vernichtet worden, was umfangreiche Gelegenheit zu Fälschungen geboten habe.

Astronomie

Dokumentierte Beobachtungen von Sonnenfinsternissen, z.B. 418 und 447 von Bischof Hydatius in Portugal, sind ein starkes Argument gegen Illigs Thesen, da sich deren Zeitpunkte genau berechnen lassen. Illig hält pauschal dagegen, dass seine Thesen durch astronomische Berechnungen nicht widerlegbar seien, weil Berichte für den betreffenden Zeitraum unsicher seien.

Der Leipziger Physikstudent Ronald Starke hat etwa 140 antike Berichte von Sonnen- und Mondfinsternissen untersucht. 80 Berichte ließen sich chronologisch nicht einordnen, z.B. weil sie durch die Überlieferungen stark verändert wurden, und waren daher zur Überprüfung von Illigs Thesen ungeeignet. 50 Berichte waren dagegen im Einklang mit der herrschenden Geschichtsschreibung. Drei Berichte standen im Widerspruch zur üblichen Chronologie, aber bei keinem würde sich der Widerspruch durch Illigs Annahme beseitigen lassen.[2]

Urheber der Fälschung

Illig vermutet, dass die Phantomzeit von Otto III. (980–1002) unter Mithilfe von Papst Silvester II. eingeführt wurde. Die Geschichtsfälschungen gingen vor allem auf den Byzantinischen Kaiser Konstantin VII. (Konstantinos Porphyrogennetos, 906-959) zurück. Über die Beweggründe wird wenig mitgeteilt. Zum einen ist von "persönlichen Motiven" Konstantins VII. die Rede, zum anderen wird spekuliert, dass man in Byzanz auf diese Weise den Verlust einer wichtigen Reliquie, des Heiligen Kreuzes, an die Perser verbergen konnte.

Andere Autoren

Übernommen wurden Illigs Thesen von dem Technikhistoriker Hans Ulrich Niemitz, der die Korrektheit etablierter Datierungsverfahren (z.B. der Radiokarbonmethode und der Dendrochronologie) grundsätzlich in Zweifel zieht.

Im Jahr 2003 machte der bis dahin nicht in Erscheinung getretene Roland P. Mayer durch zwei im Selbstverlag (Aetius Verlag) herausgegebene Bücher auf sich aufmerksam. Mayer behauptet, der Zeitraum von 565 bis 865 sei erfunden, und zwar auf Betreiben des byzantinischen Reiches (Konstantinopel). Sein Werk wiederholt in weiten Teilen die Ideen Illigs, auf den Mayer sich auch beruft; Illig charakterisierte Mayers Buch dennoch mit der Bemerkung "krauser Inhalt".[3]

Rezeption

Die These des Erfundenen Mittelalters hat in der Öffentlichkeit ein gewisses Interesse gefunden, was auch das Auftreten von Nachahmern wie Roland P. Mayer erklärt. Von der Geschichtsforschung und der Mediävistik (Wissenschaft vom europäischen Mittelalter) wird sie als fehlerhaft zurückgewiesen. Illig wurde verschiedentlich ein selektiver und oberflächlicher Umgang mit wissenschaftlich gut untersuchten Quellen sowie ein ausweichender Diskursstil vorgeworfen.[4]

Quellen

  1. http://de.wikipedia.org/wiki/Gregorianischer_Kalender
  2. R. Starke: Niemand hat an der Uhr gedreht! Differenz-Verlag Franz Krojer, München 2009
  3. http://www.fantomzeit.de/?p=182
  4. S. Matthiesen (2001): Erfundenes Mittelalter – fruchtlose These! Skeptiker 14 (2/2001), 76-79