Diskussion:RT

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Interview Robert Orttung Tagesanzeiger (Schweiz) 11.9.2018

Robert Orttung im Interview

Dmitri Kisseljow, russischer Journalist und Chef der russischen Nachrichtenagentur Rossija Segodnja, sagt: «Neutralität ist unmöglich, weil das, was wir aus dem Meer an Informationen auswählen, bereits subjektiv ist.» Können Sie das nachvollziehen?

Er bezieht sich auf eine Überzeugung, die heute auch in der westlichen Welt verbreitet ist. Sogar der US-Präsident vertritt sie: Jedes Medium habe eine politische Agenda. Die Berichterstattung der Zeitungen, Fernsehstationen und Radiosender könne somit nur voreingenommen sein. Wer so argumentiert, blendet aus, dass nicht alle Informationen gleichermassen voreingenommen sind. Wir dürfen die zynische Idee, dass alles eine Lüge ist, nicht akzeptieren. Genau das wollen uns die Kreml-Propagandisten glauben machen, um die Institution der freien Presse zu untergraben.

Welche Rolle spielt Kisseljowmit seiner Agentur in Russland?

Der Mann hat auch seine eigene Talkshow. Er spricht jeden Sonntagabend direkt zu Millionen Russen. Die Agentur Rossija Segodnja ist im Grunde eine Dachorganisation für Kisseljows Projekte. Dazu gehören auch der internationale Sender RT und die Online-Nachrichten-Plattform «Sputnik». Diese werden vom Kreml finanziert und kontrolliert. Das Ziel dieser Medien ist es, die demokratischen Institutionen im Westen zu untergraben und das autoritäre System Russlands und dessen Aussenpolitik positiv zu beeinflussen.

Putin sagt, Rossija Segodnja sei aus Kostengründen gegründet worden, nicht als Kontrollorgan.

Auch das ist wohl wahr. Russland hat ein wachsendes Problem mit seiner stagnierenden Wirtschaft. Schauen Sie sich die kürzliche Entscheidung des Kreml an, Renten zu kürzen. Das zeigt, wie katastrophal die finanzielle Situation in Moskau sein muss. Eine solche Entscheidung fällt eine Regierung nur im Notfall. Zudem erkennt Russland im Informationskrieg eine Möglichkeit, dem Westen Paroli zu bieten. Russland fehlt die wirtschaftliche und militärische Macht des Westens. Deshalb nutzt der Staat Desinformation und Propaganda, um diese Schwäche auszugleichen.

Offenbar erfolgreich. Die Reichweite des Fernsehsenders RT wächst. Warum?

RT hat vor allem im Internet ein breites Publikum. Pro Jahr erzielt der Sender ungefähr 600 Millionen Aufrufe. Webdienste wie Youtube sind die besten Plattformen für RT, weil sie relativ grosse Zielgruppen günstig erreichen können. Das TV-Netzwerk produziert das Rohmaterial, das Millionen von Nutzern in sozialen Netzwerken weiter teilen. Und die Inhalte werden nicht nur für ein russisches oder englisches Publikum produziert. RT hat auch spanische und arabische Einheiten. Ich habe die letzten Monate damit verbracht, die Zuschauerzahlen von RT-Videos auf Youtube zu analysieren: Welche Videos veröffentlicht das Netzwerk auf Googles Videoplattform? Wie viele Leute schauen sie? Das Hauptziel von RT war lange die arabischsprachige Welt. Während der Jahre 2015 und 2016 produzierte RT ungefähr 70'000 Onlinevideos. 25 Prozent davon waren auf Arabisch und nur 20 Prozent auf Russisch. Ein weiteres Viertel der Videos war in Englisch, 11 Prozent in Spanisch, 9 Prozent in Deutsch, ebenso viele auf Französisch und 1 Prozent auf Chinesisch.

Haben Sie auch die Inhalte der RT-Videos analysiert?

Die Botschaft ist stets, dass sich demokratische Länder im Chaos befinden, und dass das autoritäre System Russlands besser ist.

Ist die Desinformation erfolgreich?

Nicht so sehr im arabischen Raum. Rund ein Viertel ist wie gesagt auf Arabisch. Aber unsere Analyse zeigt, dass diese Videos nur etwa 11 Prozent der Zuschauer von RT ausmachen. Vielleicht hat es mit der eigentlichen Nachricht zu tun. Der grösste Teil stellt Russland als eine Macht-sichernde Rechtsordnung dar, die das Assad-Regime unterstützt; während der Westen angeblich die Nähe zu terroristischen Gruppen sucht. Das arabischsprachige Publikum ist sicherlich empfänglich für Alternativen zu den westlichen Medien. Aber auch auf die russischen Botschaften wollen sie sich offenbar nicht einlassen.

Wenn die arabischen Videos imVerhältnis wenig angeklickt werden, müssen sie woanders mehr geschaut werden.

Das ist vor allem in Lateinamerika der Fall. Hier spielt sich Russland als politisches Gegengewicht zu den USA auf. Und diese Botschaft kommt dort offenbar an. Auch die englischsprachigen Kanäle sind erfolgreich. Englische RT-Inhalte mit teils irreführenden Berichten wurden auch während der US-Präsidentschaftswahlen breit gestreut.

Hat russische Desinformation die US-Präsidentschaftswahlen tatsächlich entscheidend beeinflusst?

Wir haben in den USA Schwierigkeiten, diese Frage zu beantworten. Aber was die russische Desinformation sicherlich erfolgreich macht, ist die Ausnutzung der bereits tiefen Gräben, die die amerikanische Gesellschaft durchziehen: Abtreibungsfrage, Waffenbesitzrecht, rassistische Gewalt. Russland giesst mit seinen Kampagnen zusätzliches Öl ins Feuer und erzielen damit noch mehr Hass und Misstrauen. Russland betrachtet die Weltpolitik als Nullsummenspiel. Je mehr es den Westen schwächen kann, desto stärker wird das Land im internationalen System. Das meint es zumindest.

Wenn man die Entwicklungen in den USA verfolgt, scheint das zu gelingen. Der Ton im politischen Diskurs wird immer schriller.

Nun, es mag seltsam klingen, aber wissen Sie, was das Geheimnis für den Erfolg russischer Desinformation sein könnte? Sie ist sehr unterhaltsam. Selbst wenn Sie wissen, dass das, was Sie lesen oder sehen, frei erfunden ist, werden Sie die Geschichten amüsant finden. Und einige Leute sehen und lesen so viel davon, dass sie vielleicht damit beginnen, zu glauben, was da steht. Ein anderer wichtiger Grund für den Erfolg: Sender wie RT oder Internetplattformen wie «Sputnik» schaffen ein Gemeinschaftsgefühl und prägen die Identität der Zuschauer. Menschen, die sich nicht in den westlichen Mainstream-Medien wiedererkennen, sind dazu geneigt, sich mit RT zu identifizieren.

RT ist von der russischen Regierung finanziert. Der Sender behauptet aber, unabhängig zu informieren. Es gibt aber auch viele Troll-Fabriken, die via Social Media Falschmeldungen streuen – etwa, dass der Papst Donald Trump unterstützt haben soll. Können solche Desinformationskampagnen wirklich mit der russischen Regierung in Verbindung gebracht werden?

Der Kreml bestreitet noch immer Verbindungen zur Internet Research Agency (IRA) mit Sitz in St. Petersburg, dem Privatunternehmen, das während des US-Präsidentschaftswahlkampfs Facebook-Anzeigen gekauft hat. Russlands Oligarchen besitzen zwar viel Geld. Aber ihre Vermögen können leicht vom Kreml eingezogen werden. Der angebliche Geldgeber der Internet Research Agency zum Beispiel ist ein enger Freund Putins mit Verbindungen zu Russlands Geheimdiensten. Vielleicht gab es also tatsächlich keine direkte Anweisung aus dem Kreml, Anzeigen auf Facebook zu kaufen, um die US-Wähler zu beeinflussen. Vielleicht handelte jemand bei der Firma wirklich aus Eigeninitiative. Allerdings mit dem Ziel, den Kreml zufriedenzustellen.

Nicht nur russische Unternehmen nutzen Social Media, um Wahlen oder Gesellschaften zu beeinflussen.Cambridge Analytica, ein britisches Unternehmen, versuchte genau das Gleiche mit Facebook-Daten.

Natürlich ist Russland nicht der Einzige, der im grossen Stil im Internet Desinformationskampagnen betreibt. Wir haben auch China und den Iran, die ähnliche Kampagnen entwickeln, um ausländische Gesellschaften zu beeinflussen. Aber in Russland scheinen Troll-Farmen der Regierung oder dem Militär viel näher zu sein als anderswo. Machen Sie sich ein Beispiel.

Schauen Sie sich an, was mit der ukrainischen Krim-Halbinsel passiert ist. Sobald die russische Armee das Gebiet annektiert hatte, war das Internet voller Geschichten darüber, wie willkommen die russische Armee auf der Krim war. RT hat auf Youtube Dutzende herzerwärmende Geschichten erzählt. Und die Trolle kümmerten sich um Social-Media-Inhalte, die dem zuwiderliefen, indem sie sie einfach niederschrien. Und, ist alles von Moskau gesteuert? Ich glaube nicht, dass alles zentral orchestriert wird. Im Gegenteil. Ich denke, dass russische Desinformationskampagnen dezentralisiert organisiert sind und von konkurrierenden Unternehmen oder konkurrierenden Regierungsorganisationen ausgeführt werden. Dies macht den Umgang mit russischer Desinformation so schwierig.

Wie sollte der Westen damit umgehen?

Die Ironie ist: Russland nutzt bewusst die Rede- und Pressefreiheit von westlichen Gesellschaften aus, um deren liberale Demokratien zu untergraben. Es tut das, indem es die Gräben noch tiefer zu machen versucht. Dem Westen bleibt deshalb nichts anderes zu tun, als noch mehr Anstrengungen zu unternehmen, um die eigenen gesellschaftlichen Probleme anzugehen. Nur so kann der Desinformation wirklich der Stachel gezogen werden.

Tages-Anzeiger, 11.09.2018