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==Bericht 1==
 
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Ich würde gerne mit anderen betroffenen Familien in Kontakt treten. Das würde mir guttun, da mal zu reden. So eine Art Selbsthilfegruppe. Ich würde gerne hören, wie sich das Leben anderer Familien nach dem Aufenthalt so entwickelt hat. Ob sie auch zwei Zeitrechnungen haben. Vor und nach Gelsenkirchen.“
 
Ich würde gerne mit anderen betroffenen Familien in Kontakt treten. Das würde mir guttun, da mal zu reden. So eine Art Selbsthilfegruppe. Ich würde gerne hören, wie sich das Leben anderer Familien nach dem Aufenthalt so entwickelt hat. Ob sie auch zwei Zeitrechnungen haben. Vor und nach Gelsenkirchen.“
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==Bericht 2==
 
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Ich muss sagen, meine Tochter und ich haben den Aufenthalt auch nach fast zwei Jahren noch nicht verarbeitet. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es uns gehen würde, wenn wir das Programm weiter durchgezogen hätten. Ich bin nach wie vor erschüttert, dass so eine Behandlung erlaubt ist.“
 
Ich muss sagen, meine Tochter und ich haben den Aufenthalt auch nach fast zwei Jahren noch nicht verarbeitet. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es uns gehen würde, wenn wir das Programm weiter durchgezogen hätten. Ich bin nach wie vor erschüttert, dass so eine Behandlung erlaubt ist.“
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==Bericht 3==
 
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Zurück in Berlin erstatteten wir Strafanzeige gegen die Kinderklinik und informierten die Krankenkasse sowie die Ärztekammer. Das Strafverfahren wurde später eingestellt. Im Schreiben der Staatsanwaltschaft heißt es: „Sofern Sie mit einzelnen Behandlungen bzw. Vorgehensweisen nicht einverstanden waren, hätte es Ihnen oblegen, diese zu unterbinden bzw. – wie letztendlich auch geschehen – die Behandlung abzubrechen. Strafrechtlich relevantes Verhalten vermag ich Ihrer Strafanzeige und den uns überreichten Unterlagen nicht zu entnehmen“.“
 
Zurück in Berlin erstatteten wir Strafanzeige gegen die Kinderklinik und informierten die Krankenkasse sowie die Ärztekammer. Das Strafverfahren wurde später eingestellt. Im Schreiben der Staatsanwaltschaft heißt es: „Sofern Sie mit einzelnen Behandlungen bzw. Vorgehensweisen nicht einverstanden waren, hätte es Ihnen oblegen, diese zu unterbinden bzw. – wie letztendlich auch geschehen – die Behandlung abzubrechen. Strafrechtlich relevantes Verhalten vermag ich Ihrer Strafanzeige und den uns überreichten Unterlagen nicht zu entnehmen“.“
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==Bericht 4==
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ERFAHRUNGSBERICHT EINER MUTTER in der Kinderklinik Gelsenkirchen
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Hier ein Erfahrungsbericht einer Mutter, die selbst Ärztin ist und mit ihrem entwicklungsverzögerten Kind in der Kinderklinik Gelsenkirchen stationär aufgenommen wurde:
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ERFAHRUNGSBERICHT EINER MUTTER in der Gelsenkirchener Kinderklinik
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„Meine Tochter L. leidet unter einer genetisch bedingten, globalen Entwicklungsverzögerung. Sie war mit sechs Jahren geistig und motorisch in etwa auf dem Entwicklungsstand einer Zweijährigen. Um überhaupt Nahrung zu sich nehmen zu können, hatte sie, seit sie ein Jahr alt war, eine Ernährungssonde. Die Sonde verursachte mit den Jahren einen hohen Leidensdruck. Sie/ihr Körper war nun soweit, langsam an feste Nahrung herangeführt zu werden. Die sogenannte Sondenentwöhnung sollte in der Kinderklinik Gelsenkirchen durchgeführt werden, auf welche ich durch positive Erfahrungsberichte aufmerksam geworden war.
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Eine Mutter, die ihren Namen nicht öffentlich machen möchte, hat uns ihren Fall geschildert. Sie war mit ihrem sechs Monate alten Baby aufgrund seiner starken Neurodermitis zur stationären Behandlung in der Gelsenkirchener Kinderklinik. Eigentlich waren drei Wochen Aufenthalt geplant, die Mutter hat die Behandlung aber schon nach wenigen Tagen abgebrochen, nachdem sich das Kind in einem Klinikzimmer namens „Mäuseburg“ unter Aufsicht des Klinikpersonals großflächig den Kopf blutig gekratzt hat.
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Meine Tochter hat aufgrund des komplexen Krankheitsbildes bereits mehrere Klinikaufenthalte hinter sich. Unter anderem haben wir, als L. zwei Jahre alt war, in einer Spezialklinik in Graz einen ersten Versuch der Sondenentwöhnung unternommen, was sich aber als deutlich zu früh herausgestellt hat. Für mich als berufstätige und alleinerziehende Mutter waren Klinikaufenthalte stets mit einem hohen Organisationsaufwand verbunden.
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Lest hier ihren Erfahrungsbericht:
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Vor dem Aufenthalt in Gelsenkirchen fand ein einstündiges Telefonat mit Herrn Langer statt. In diesem Gespräch wurde ein sechswöchiger Aufenthalt geplant. Selbstverständlich waren die Beeinträchtigungen meiner Tochter Thema, auch über den Pflegegrad wusste die Klinik im Vorfeld Bescheid. Das Telefonat war angenehm und mir kam das, was Herr Langer sagte, schlüssig und kompetent vor. Da ich selbst Ärztin bin, bin ich mit den Abläufen in Krankenhäusern gut vertraut. Somit begann ich damit, alles zu organisieren.
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„Vom 9. bis zum 12. April 2017 war mein sechs Monate alter Sohn K. wegen Neurodermitis gemeinsam mit mir in der Gelsenkirchener Kinderklinik stationär. Am Anreisetag fand zunächst ein kurzes Aufnahmegespräch mit einer Schwester statt. Alle Salben und Cremes sollten sofort abgesetzt werden, auch das Kortison, das üblicherweise ausschleichend abgesetzt wird. Ich nahm das erstmal so an und dachte nicht weiter darüber nach, da ich (noch) Vertrauen und große Erwartungen in den Aufenthalt in Gelsenkirchen hatte. Am Nachmittag fand ein Begrüßungscafé statt und die erwachsenen Begleitpersonen (ausschließlich Mütter, Väter habe ich nicht gesehen) wurden darüber aufgeklärt, dass die ersten Tage erstmal der Eingewöhnung dienten und die richtige Therapie am Mittwoch losginge.
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Bei der Ankunft am 14.02.2016 fiel mir sofort negativ auf, mit welcher ausgeprägten, gewollten Distanz auf unser Ankommen reagiert wurde. Die Schwestern begrüßten meine Tochter nicht einmal, obwohl sie immerhin sechs Wochen bleiben sollte. Auch meiner Bitte, meine Tochter kurz zu beaufsichtigen, während ich das Auto auslud, kamen die Schwestern nur sehr widerwillig nach.
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Tag 1, Montag, 10.04.17
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Eigentlich hätte das Esstraining direkt losgehen sollen. Allerdings wurde mir schnell klar, dass das Konzept auf Kinder wie L. nicht ausgelegt war. Es war z.B. unklar, ob sie in der Altersgruppe 0-3 oder ab 3 verortet werden sollte, was für den Ablauf einen großen Unterschied gemacht hätte. Eine ausführliche Anamnese oder Analyse der Esssituation fand nicht statt. Ich hatte keinen Ansprechpartner, mit dem ich den Ablauf hätte besprechen können. Also bekam L. ihr Essen weiter ausschließlich über die Sonde. Dies war allerdings auch nicht so einfach, weil seitens der Klinik kein Angebot an sondierbarer Nahrung zur Verfügung gestellt werden konnte, mit welchem der erforderliche Kalorienbedarf hätte gedeckt werden können.
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Am Montag fand eine Einführung in das Behandlungsverfahren statt und mir kamen die ersten Zweifel. Insbesondere die Aussage, dass sich die Kinder mit Neurodermitis kratzen dürften, bzw. sogar sollten, irritierte mich. Es hieß, dass das Kratzen dem Stressabbau diene. Eine weitere Aussage war, dass Kinder mit ihrer Neurodermitis nur Aufmerksamkeit erregen wollen. Wenn man das ignoriere, würden die Probleme verschwinden. Da ein Kratzschutz (Handschuhe) ein Zeichen der Aufmerksamkeit sei, sei er verboten. Ich meldete mich zu Wort und äußerte meine Zweifel. Ich wies darauf hin, dass z.B. der Juckreiz bei einem Mückenstich durch kratzen nur stärker wird und man sich dann in Rage kratzt bis es blutet und es dann brennt. Auf meinen Einwand erwiderte die Vortragende, dass es in den nächsten Tagen weitere Informationen dazu geben werde. Ich warf ein, dass ich bis dahin die Handschuhe noch dran lassen werde bis mir das ausführlicher erklärt werden würde.
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Ich weiß, dass das Konzept für L. auch Aufenthalte in der Mäuseburg vorgesehen hat. Ich habe aber vergessen, warum es letztlich doch nicht dazu gekommen ist.
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Um 15 Uhr fand ein ärztliches Aufnahmegespräch statt, in welchem die Anamnese besprochen und auch Fragen zu meiner psychischen Verfassung gestellt wurden. Es wurde beispielsweise gefragt, ob es „einschneidende Erlebnisse“ in der Vergangenheit gegeben habe und ob ich meinem Sohn gegenüber schon einmal aggressiv geworden sei. Ich teilte der Ärztin mit, dass ich derzeit Stillprobleme hatte und fragte, ob es schlimm wäre, wenn ich K. hin und wieder Fertigmilch (PRE-Nahrung) gebe. Ich hatte deshalb Bedenken, weil ich gehört hatte, dass der Verzehr von Kuhmilch einen Neurodermitisschub auslösen kann. Diese Frage konnte von der Ärztin nicht beantwortet werden ich wurde an die Schwestern weiterverwiesen.
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Was die Schlafsituation anging stellte sich heraus, dass es kein passendes Bett für L. gab. Leider schien auch keines organisiert werden zu können. Für das Babybett war sie zu groß und in dem Bett für größere Kinder gab es keine Sicherungsmöglichkeiten. Zum damaligen Zeitpunkt hatte L. aber gerade erst begonnen zu laufen. Weil sie noch nicht sicher lief und stand, wollte ich sie nicht zu den Mittagsschlafzeiten dort allein lassen, da ich Sorge vor einem Sturz hatte. Eine Aufsicht fand für Kinder nur via Kameraüberwachung an einer zentralen Stelle statt. In unserem Patientenzimmer, in dem L. allein in ihrem Bett hätte bleiben sollen, gab es daher eine Kamera. Das Gefühl, potenziell überwacht werden zu können, fand ich extrem unangenehm.
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Tag 2, Dienstag, 11.04.17
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Das Konzept forderte mittags ein wiederholtes „Sich-selbst-überlassen-Sein“ in der Schlafsituation über einen Zeitraum von mindesten 1,5 Stunden. Aufgrund des meiner Tochter fehlenden Gefahrenbewusstseins und der noch recht unkoordinierten Grobmotorik hätte ich das als grob fahrlässig und gefährlich empfunden und habe es aus diesem Grund auch abgelehnt. Die Therapeutinnen forderten mich dazu auf, L. trotzdem allein zu lassen. Als ich darauf entgegnete, dass die Klinik dann für eventuelle Verletzungen haften müsse, wandte sich die Stimmung plötzlich gegen mich. Das Team begegnete mir nach dieser Aussage unfreundlich bis feindselig.
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Am Dienstag wurde der Tagesablauf für die nächsten Tage erklärt. Dieser sollte wie folgt aussehen:
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Ich fühlte mich wirklich unwohl, nicht kompetent betreut und wusste nicht, wie es weitergeht. Ich konnte keinerlei Konzept erkennen, welches bei meiner sondenabhängigen Tochter die Lust auf Essen geweckt hätte. Daher bat ich um ein Gespräch mit den Verantwortlichen. Ich wurde von Dr. Lion, Herrn Langer und einer weiteren Psychologin mit verschränkten Armen empfangen. Mir wurde unterstellt, dass ich mich anscheinend nicht auf das Konzept einlassen könne. Ich sagte, dass ich das gerne würde, ich mir aber aufgrund der Gesamtsituation ziemlich verloren vorkäme. Es wurde mir gesagt, dass ich noch eine Woche zur Orientierung bleiben solle. Dann würde das Klinikteam entscheiden, ob ich mich hinreichend auf das Konzept einlassen und man mit mir und meiner Tochter arbeiten könne. Ich erklärte mich damit zunächst einverstanden. Am nächsten Morgen wollte ich mich zu den auf dem Plan stehenden Terminen einfinden. Ich wurde aber aus jedem Programmpunkt, an dem ich teilnehmen wollte, wieder hinausgebeten. Auf Nachfrage wurde mir bestätigt, dass ich in dieser "Orientierungswoche" an keinem der Programmpunkte (z.B. Autogenes Training und Seminare) teilnehmen dürfe. Sogar die Teilnahme am Gruppenspaziergang wurde mir verwehrt. Ein Grund hierfür wurde nicht genannt.
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7:00 Uhr – 7:30 Uhr Muttermilch
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Wir blieben noch eine Nacht, dann brach ich den Aufenthalt am 20.02.2016 ab und entließ meine Tochter und mich aus der Klinik. In den Entlassungspapieren wurde vermerkt, dass die Entlassung stattfand, weil ich mich nicht auf das Behandlungskonzept einlassen könne.
7:45 Uhr Betreuung in Mäuseburg (Trennungstraining) während des Frühstücks
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9:30 Uhr – 11:00 Uhr Schlafen
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11:00 Uhr durch Personal wecken, wickeln, dann Mäuseburg (Trennungstraining)
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11:30 Uhr Muttermilch (zunächst sollte Brei gefüttert werden, nach 20 Minuten dann erst Muttermilch)
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12:15 Uhr Betreuung in Mäuseburg (Trennungstraining) während des Mittagessens
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13:00 Uhr – 15:00 Uhr Schlafen
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15:00 Uhr durch Personal wecken, wickeln, dann Mäuseburg (Trennungstraining)
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15:30 Uhr Muttermilch
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18:15 Uhr – 18:55 Uhr Betreuung in Mäuseburg (Trennungstraining)
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19:00 Uhr Muttermilch, dann Nachtruhe
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23:00 Uhr Muttermilch
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Mir wurde gesagt, dass ich als Mutter schuld an der Neurodermitis sei, weil während des Geburtsvorgangs die Austreibungsphase zu schnell gewesen wäre und das Kind dadurch eine zu starke Bindung hätte, was das Trennungstraining notwendig mache.
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Ich empfand diese Station, gerade auch als Ärztin, als eine völlige Parallelwelt. Ein solches Verhalten der dort arbeitenden Menschen kannte ich überhaupt nicht, die Atmosphäre wirkte schon sektenhaft. Die Grundannahme des Kindes als manipulativen, kleinen Tyrannen schwebte über der kompletten Station. Niemand betrachtete oder behandelte Kinder wohlwollend. Ich hatte den Eindruck, dass alle Kinder dasselbe Programm durchlaufen mussten - unabhängig davon, ob eine geistige und motorische Behinderung vorlag, es sich um eine Interaktionsproblematik eines zeitgerecht entwickelten Kinds handelte oder eine Essanfängerin wie L. das Essen überhaupt erst erlernen sollte. Sie alle wurden mit denselben Therapiebausteinen behandelt und galten als Strategen und potenzielle Tyrannen.
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Ab Mittwoch sollte K. also in die „Mäuseburg“ und nur noch fünf Mal am Tag – streng nach Plan – gestillt werden. Auch der Schlaf sollte nur noch nach Plan erfolgen. Ich wollte eigentlich nicht, dass K. das für alle Kinder obligatorische Trennungstraining mitmacht. Nachdem ich meine Ängste bezüglich der Mäuseburg und meine Befürchtung, dass man mein Kind dort schreien lassen könnte, geäußert hatte, tat Frau J. sehr verständnisvoll und empfahl mir, einen Termin mit einem Psychologen zu einem Einzelgespräch zu vereinbaren.
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Ich habe die Vermutung, dass das Behandlungsverfahren für die Klinik lukrativ ist. Wegen der Beaufsichtigung überwiegend in Großgruppen und der Videoüberwachung scheint der Personalaufwand im Vergleich zu anderen pädiatrischen Abteilungen anderer Kliniken, die ich mit L. kennen gelernt habe, eher gering. Einzeltherapien gibt es nur in Ausnahmefällen. Abgerechnet wird der Aufenthalt aber als pädiatrische Komplexbehandlung.
 
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Des Weiteren sprach ich mit ihr über meine Stillprobleme und dass ich Angst habe, weniger zu stillen, weil dadurch die Milch noch weiter zurückgehen würde (Zur Erklärung – die Milchproduktion passt sich dem Verbrauch an. Wenn ich also weniger stille geht auch automatisch die Milchproduktion weiter runter). Dieser Angst wurde keine große Beachtung geschenkt. Angeblich hätte ich dann anstatt vieler kleiner Mahlzeiten eben fünf große. Sie betonte, dass ich das mache, um K. zu helfen und weil ich doch da wäre, um etwas zu verändern. Außerdem wurde mir geraten, den Kontakt nach Hause zu unterlassen und mein Telefon bei den Schwestern abzugeben, um mir selbst zu helfen. Ich war völlig außer mir und weinte, weil ich mich nicht verstanden fühlte.
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Um 9.15 Uhr fand eine kurze Statusuntersuchung statt, bei der ich mich zwar im gleichen Raum wie K. aufhalten durfte, allerdings ohne von ihm gesehen zu werden.
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Später am Vormittag wurde mir gesagt, dass mein sechs Monate alter Sohn durchschlafen müsse, da jedes Kind ab vier Monaten dazu in der Lage wäre. Ich zweifelte dieser Aussagen mit Nachdruck an und begründete meine Einwände. Ich wurde erneut an einen Psychologen verwiesen. Daraufhin wollte ich einen „richtigen Arzt“ sprechen. Dr. Lion kam zu mir und berichtete mir von seiner jahrelangen Erfahrung. Er forderte mich dazu auf, zu vertrauen. Auch er erklärte, dass wir ja stationär seien, damit meinem Sohn geholfen werden könnte. Ich versuchte anschließend ernsthaft, die Zweifel zur Seite zu schieben und den Klinikmitarbeitern zu vertrauen.
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Am Nachmittag fand noch eine Einführungsveranstaltung in das Bindungs- und Trennungstraining statt. Ich fing während des Vortrages mehrfach an zu weinen. Ich sagte aber nichts und schluckte alle Bedenken herunter.
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Ich erinnere mich, dass unter den Müttern ein starker Zusammenhalt herrschte. Viele verbrachten fast den ganzen Tag zusammen – man ging beispielsweise zusammen joggen und machte autogenes Training, während die Kinder beim Schlaf- oder beim Trennungstraining waren. Wir Mütter durften die Kinder nur zu bestimmten Zeiten sehen.
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[Whatsapp-Nachricht, die ich an diesem Tag geschrieben habe: „Ich weiß nicht was ich sagen soll. Deshalb habe ich mich nicht gemeldet. Auch jetzt weiß ich es nicht! Mir geht es scheiße und ich weiß nicht ob ich das mit meinem Gewissen alles so vereinbaren kann!“]
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Tag 3, Mittwoch, 12.04.17
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K. war seit 6 Uhr wach, weil er Hunger hatte. Ich sollte aber erst ab 7 Uhr füttern. Ich versuchte ihn zu beruhigen, ohne Erfolg.
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Um 7.45 Uhr habe ich ihn in der Mäuseburg abgegeben. Nach dem Frühstück gingen wir spazieren, wobei das Baby im Tragetuch einschlief. Als ich im Anschluss Frau J. fragte, wie ich nun die Sache mit dem Vormittagsschlaf handhaben solle, wurde mir gesagt, dass ich das Kind trotzdem hinlegen solle. Ich tat es. Während ich den Raum verließ, fing mein Sohn an zu weinen, da er ausgeschlafen war und langsam auch wieder Hunger bekam. Gestillt werden durfte er aber nicht. Ich hörte ihn vom Flur aus bitterlich weinen und brach selbst in Tränen aus. Die Schwestern hörten ihn zwar, kümmerten sich aber nicht um ihn. Sie rieten mir, wegzugehen, damit ich ihn nicht hören müsse.
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Um 10 Uhr begann Dr. Lions Vortrag und ich hörte meinen Sohn vom Vortragsraum aus immer noch weinen und schreien.
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[WhatsApp-Nachricht, die ich kurz vor Beginn des Vortrages geschrieben habe: „Ich höre ihn ganz bitterlich und verzweifelt über den Flur weinen. Niemand macht etwas. Das letzte mal gegessen hat er um 7 Uhr. Er hat Hunger und ich darf nicht stillen. Ich brech hier zusammen.“]
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Als der Vortrag um 11.30 Uhr zu Ende war, holte ich K. aus der „Mäuseburg“ ab. Ich fand ihn auf einer blutigen Bettdecke, am Kopf mit schlimmen Verletzungen, die ich fotografiert habe. Das Klinikpersonal hat K. entgegen meinen ausdrücklichen Willen die Kratzschutzhandschuhe und den Schnuller weggenommen, als sie ihn vom Bett in die „Mäuseburg“ gebracht haben. Als ich den Raum betrat, saßen zwei Betreuer in der Mitte, als wenn nichts wäre, waren ganz still und lächelten die ganze Zeit. Um sie herum schätzungsweise zehn weitere Kinder, alle älter als K. und alle am Weinen. Ein Mädchen stand neben mir am Fenster, bemerkte mich nicht, weil sie so mit heulen beschäftigt war. Sie trommelte mit den Fäusten gegen die Fensterscheiben und ich sah ihr an, dass sie nur wegwollte und unfassbare Angst gehabt haben muss. Diesen Anblick werde ich wohl nie vergessen.
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Ich nahm meinen Sohn schnell mit aufs Zimmer. Als wir uns beide etwas beruhigt und ich meinen Sohn gefüttert hatte, verlangte ich, jemanden zu sprechen, der zuständig war. Ich wurde an eine bestimmte Schwester verwiesen, die vorschlug, K. ins Bett zu legen. Auf diesen Vorschlag ging ich nach dem Erlebnis mit der „Mäuseburg“ allerdings nicht ein. Ich entschied, dass er bei mir bleiben sollte. Die Schwester ging mit uns in das sogenannte Wohnzimmer. Sie schlug vor, ihm den Schnuller noch in den nächsten Tagen zu lassen, die Handschuhe allerdings nicht. Obwohl ich äußerte, dass ich anderer Auffassung war, beugte ich mich der Meinung der Schwester.
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Ich war zu diesem Zeitpunkt nervlich bereits stark angeschlagen. Ich beschloss schließlich, die Behandlung abzubrechen, da ich die Methoden als zu gefährlich für meinen Sohn einstufte. Ich hatte Angst. Ich rief meine Mutter an, die versuchte, mich zu beruhigen. Als sie versprach, am Telefon zu bleiben, traute ich mich zum Schwesterntresen und bat um eine Wundversorgung des Kopfes meines Kindes. Diese wurde verweigert, „weil das nicht so schlimm“ sei. Ich solle mich „nicht so haben“. Ich war völlig fertig und bat meine Mutter, mit der zuständigen Schwester zu sprechen. Ich gab ihr also mein Handy und meine Mutter sagte dieser, dass ich die Behandlung abbrechen will.
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Zu dem eigentlich folgenden Vortrag bin ich nicht mehr gegangen, woraufhin Dr. Lion zu mir kam. Ich sagte ihm, dass die Methoden, die dort angewendet werden, in meinen Augen grob fahrlässig und gefährlich seien und an Kindeswohlgefährdung grenzen. Auf diese Aussage erwiderte er, dass es wohl wirklich besser sei, wenn die Behandlung beendet wird, da ein gegenseitiger Vertrauensverlust vorliege. Dem stimmte ich zu. Dr. Lion sagte noch, dass ich dann „einfach noch nicht so weit sei“ und verließ den Raum.
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Ich ging mit K. im Tragetuch spazieren und er saugte meine Nähe förmlich auf und entspannte sich endlich. Auch sein Zittern hörte langsam auf. An den folgenden Tagen konnte ich K. keine Sekunde allein lassen, weil in ihm sofort die Angst wieder hochkam, dass ich weg sein könnte. Ich hatte jetzt nicht mehr nur ein krankes, sondern auch ein verstörtes Kind.
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Am nächsten Tag wurden wir in einer anderen Kinderklinik vorstellig. Dort wurde eine Superinfektion des Köpfchens festgestellt und schulmedizinisch behandelt.
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Zurück in Berlin erstatteten wir Strafanzeige gegen die Kinderklinik und informierten die Krankenkasse sowie die Ärztekammer. Das Strafverfahren wurde später eingestellt. Im Schreiben der Staatsanwaltschaft heißt es: „Sofern Sie mit einzelnen Behandlungen bzw. Vorgehensweisen nicht einverstanden waren, hätte es Ihnen oblegen, diese zu unterbinden bzw. – wie letztendlich auch geschehen – die Behandlung abzubrechen. Strafrechtlich relevantes Verhalten vermag ich Ihrer Strafanzeige und den uns überreichten Unterlagen nicht zu entnehmen“.
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Meiner Tochter ist dort zum Glück nichts Schlimmes passiert, aber gebracht hat es auch rein gar nichts. Den mehrtägigen Einblick in den Alltag der Station fand ich erschreckend. Für mich persönlich war es darüber hinaus eine sehr ärgerliche und frustrierende Erfahrung. Ich hatte einiges an Zeit und Kraft in die Vorbereitung und den Aufenthalt gesteckt - Zeit, die ich als alleinerziehende und berufstätige Mutter besser anderes investiert hätte. Außerdem hatte ich mich - zum wiederholten Mal - sechs Wochen von der Arbeit freistellen lassen, was mir nicht leichtgefallen ist.
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Nach der Erfahrung in der Klinik habe ich von einem weiteren Klinikaufenthalt zur Sondenentwöhnung abgesehen. Ein Jahr später hat L. mit meiner Hilfe begonnen, ohne Sonde zu essen.“
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