Grünlippmuschel-Produkte

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Diätetisches Lebensmittel "Lyprinol" mit Extrakten von Perna canaliculus

Grünlippmuschel-Produkte (Grünschalmuschel-Extrakte) enthalten Extrakte aus Grünlippmuscheln (Perna canaliculus) und werden in der Alternativmedizinszene zur Behandlung von entzündlichen Erkrankungen wie (rheumatoider) Arthritis und Asthma beworben. Wirksam sollen dabei Glykosaminoglykane (langkettige Aminozuckerverbindungen) sein, die auch in der Gelenkflüssigkeit (Synovialflüssigkeit) vorkommen.

Die wissenschaftliche Studienlage zu Grünlippmuschel-Produkten ist widersprüchlich. Einige Studien zeigen eine Wirksamkeit im Tierversuch und beim Menschen. Problematisch sind mögliche Belastungen mit verschiedenen Algentoxinen.

Trotz einiger vielversprechender Studienergebnisse gibt es zur Zeit kein zugelassenes Arzneimittel, das Inhaltsstoffe aus Perna canaliculus enthält (Stand 2012). Dies ist erstaunlich, da bereits auf dem Markt befindliche und seit langem etablierte entzündungshemmende Arzneimittel (insbesondere NSAR und kortisonhaltige Mittel) ein nicht zu vernachlässigendes Nebenwirkungsspektrum wie vermehrte Blutungsneigung (Gerinnungshemmung), Auslösung von Asthmaanfällen oder Magengeschwüre haben. Potentielle Anwender von Grünlippmuschelextrakten sind daher gezwungen, auf Lebensmittel und diätetische Lebensmittel zurückzugreifen und müssen sich dabei auf die Angaben der jeweiligen Hersteller zum Inhalt der Produkte verlassen, die jedoch als Lebensmittel keinem Zulassungsverfahren analog zu Arzneimitteln unterworfen sind. Insbesondere muss der Käufer dem Hersteller in Bezug auf Konzentrationsangaben, Abwesenheit kontaminierender Mikroorganismen und Schwermetallgehalt vertrauen.

Die Grünlippmuschel

Grünlippmuschel-Ernte in Neuseeland

Die Grünlippmuschel ist als Lebensmittel weltweit bekannt und erinnert an die Miesmuschel. Neuseeland ist derzeit der weltgrößte Produzent dieser "New Zealand Greenlip Oyster" genannten Muscheln. Die Muscheln werden auch unter dem Markennamen "Greenshell" Mussel vermarktet. Ein typisches Produkt ist "Seatone", ein gefriergetrockneter Extrakt der neuseeländischen Grünschalmuschel. Im Jahre 2000 wurden mit Grünlipp-/Grünschalprodukten über 120 Mio. neuseeländische Dollar umgesetzt.

Die Saison für die Ernte dieser Muscheln ist ganzjährig. Nach einer Wachstumszeit von 1,5 Jahren ist die Muschel ab einer Mindestgröße von 10 cm erntefähig. Nach den USA ist Spanien der größte Importeur von Grünlippmuscheln.

Bis zu 20% der Ernte wird als Nahrungsergänzungsmittel, diätetisches Lebensmittel und Zusatzstoff für Tiernahrung (insbesondere Hundefutter) angeboten. Dabei wird aus 40 kg Muscheln etwa 1 kg Extrakt gewonnen. Im Internet werden Nahrungsergänzungsmittel auf Basis dieser Extrakte als gefriergetrocknetes Muschelfleisch-Pulver und Muschelfleischöl unter Bezeichnungen wie Lyprinol oder Perna zur Therapie diverser Erkrankungen angeboten. Ein Kilogramm Extraktrohware ist ab 75 Euro erhältlich.

Grünlippmuschelextrakte und der Arachidonsäure-Stoffwechsel

Grünlippmuscheln enthalten eine Substanz, die - z.B. analog zu Weihrauch - in den Arachidonsäure-Stoffwechsel eingreift und die Umwandlung von 5-Lipoxygenase zu Leukotrienen bzw. 5-Hydroxy-Eicosatetraensäure (5-HETE) hemmt. Auch bremst sie die Umwandlung von 12-Lipoxygenase in 12-HETE[1]. Viele der genannten Substanzen aus Perna canaliculus spielen eine Rolle bei Entzündungsprozessen.

Wissenschaftliche Studienlage

In diversen klinischen Studien wurde in den letzten Jahren die entzündungshemmende Wirkung von Grünlippmuschelextrakten beim Menschen und in Tierversuchen untersucht. Aktuell (2012) liegen drei Übersichtsarbeiten (reviews) zum Thema vor. Bis 2008 lagen nur vier so genannte RCT-Studienergebnisse (randomized clinical trials) vor.

Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahre 2006, die die bis dahin veröffentlichten Studien zusammenfassend bewertet, kam zum Ergebnis, dass es bislang keine ausreichenden Wirksamkeitsbelege gebe, die eine Anwendung beim Menschen als entzündungshemmendes Mittel rechtfertigen würde. Weitere Forschungen seien nötig. Zitat:

"Conclusion
There is little consistent and compelling evidence, to date, in the therapeutic use of freeze-dried green-lipped mussel powder products for rheumatoid or osteoarthritis treatment, particularly in comparison to other cheaper alternative nutriceutical supplements of proven efficacy. However, further investigations are necessary to determine whether green-lipped mussel supplements, such as Seatone, are therapeutic options in the management of arthritis."
[2]

Eine Auswertung aus dem Jahre 2008 ist in Bezug auf die Wirksamkeit von auf dem Alternativmedizinmarkt "komplementär" angebotenen Inhaltsstoffen aus Perna canaliculus bei Gelenkentzündungen optimistischer. Demnach lägen zum Zeitpunkt der Studie nur vier randomisierte RTC-Studien vor, von denen nur drei placebokontrolliert seien. Keine einzige Studie vergleiche die Therapie mit Lyprinol mit einer etablierten Therapie (No RCTs comparing GLM to conventional treatment were identified. All four studies assessed GLM as an adjunctive treatment to conventional medication for a clinically relevant time in mild to moderate OA.). Zwei Studien, die positive Effekte aufzeigen, seien nicht für die Übersicht auswertbar, schreiben die Autoren, weil Unklarheit über die Verblindung herrsche und ungeeignete statistische Verfahren benutzt worden seien. Die beiden einzig auswertbaren Arbeiten lassen auf eine über den Placeboeffekt hinausgehende Wirkung bei milden und mittelgradigen Formen einer Osteoarthritis schließen.[3]

Mögliche Kontamination durch Bakterien und Algen und mögliche Toxinbelastung

Wie bei jedem Naturprodukt sind auch beim Grünlippmuschelextrakt bestimmte Gefahren nicht auszuschließen. Grünlippmuscheln ernähren sich von Plankton. Dieses beinhaltet Algen und Bakterien und andere Mikroorganismen (besonders die hochgiftigen Dinoflagellaten), die wiederum Nervengifte gegen ihre Fressfeinde produzieren. Jene müssen für Grünlippmuscheln nicht automatisch giftig sein, können aber durch Anreicherung der Gifte in der Nahrungskette zu Problemen führen. MacKenzie et al. (2002) untersuchten Grünlippmuscheln von der nördlichen Westland-Coast der neuseeländischen Südinsel, die während einer Algenblüteperiode geerntet wurden, in der auch die Grünlippmuscheln gut wuchsen. In Abhängigkeit der jahreszeitlichen Wachstumsstärke des Algenplanktons war in den Grünlippmuschelnn ein ganzes Spektrum diverser Algentoxine entlang einer 110 km langen Prüfstrecke entlang der Küste nachweisbar. Pro 100 g Lebendgewicht konnten u.a. 94-164 Mikrogramm Yessotoxin, 13,5-188 Mikrogramm 45OH-Yessotoxin, 0,8-19,3 Mikrogramm Pectenotoxin 2 und 22-1.132 Mikrogramm Pectenotoxin 2-SA und einige weitere Algentoxine festgestellt werden.So beschrieben Morohashi et al. (1999), die im Jahre 1993 auf der neuseeländischen Coromandel Peninsula, North Island Grünlippmuscheln gesammelt hatten, eine Belastung mit dem Algengift Brevetoxin. Wenn die belasteten Muscheln von Fischen gefressen werden, kommt es in deren Organismus zu einer Umwandlung in Analoga (Brevetoxin B2 bis B4), was wiederum zu Fischsterben, aber auch zu Vergiftungserscheinungen beim Menschen führen kann, wenn diese Fische im Rohzustand verzehrt werden.

In Neuseeland ist das Problem der Algentoxinbelastung seit Jahren bekannt. Seit 1992 wird die saisonale Meerwasserbelastung mit marinen Biotoxinen konsequent registriert, weil immer wieder Lebensmittelvergiftungen u.a. nach Muschel- oder Fischkonsum auftreten, die auf Algentoxine zurückgeführt werden konnten. Ein Report des neuseeländischen Gesundheitsministeriums (MarineBiotoxinReportDec2000.pdf) gibt hierzu einen Überblick. Bisher wurde nur über wenige ernste Schadenfälle in der Literatur berichtet. Im Jahr 2008 wurde jedoch über eine tödliche Vergiftung einer Patientin berichtet, die über einen längeren Zeitraum ein Nahrungsergänzungsmittel, das u.a. Grünlippmuschelkonzentrat enthielt, eingenommen und eine toxische Hepatitis entwickelt hatte. Die Patientin verstarb an den Folgen der Leberparenchymschädigung und Multiorganversagen. Ein Zusammenhang zwischen der Noxe und der aufgetretenen Symptomatik ist möglich.[4]

Da es bei der Herstellung der Grünlippmuschelextrakte zu einer Anreicherung dieser Algengifte kommen kann, besteht bei einer dauerhaften Einnahme von Grünlippmuschelextrakten durchaus die Gefahr einer chronischen Algentoxin-Vergiftung. Im Gegenzug besteht aber ebenfalls die Möglichkeit, dass Anbieter entsprechender Nahrungsergänzungsmittel vorher geprüftes und nichtkontaminiertes Muschelmaterial verwenden. Bei geplanter Einnahme von Grünlippmuschelextrakt ist es daher empfehlenswert, sich glaubhafte Laboranalysen vorlegen zu lassen, die eine geringe oder am besten fehlende Toxinbelastung der Rohware beweist. Die Analyse sollte von einem staatlichen Lebensmittelprüflabor stammen und mittels einer LC-MS/MS-Methode durchgeführt worden sein.

Grünschalmuscheln können auch Schwermetalle anreichern. In einer Studie wurde jedoch festgestellt, dass die Schwermetallbelastung vertretbar gering ist und unter den gesetzlichen Grenzwerten liegt. Ein gelegentlicher Verzehr der Muscheln soll demnach nicht zu einer unzumutbaren Schwermetallbelastung führen. Einzig die Ureinwohner Neuseelands, die regelmäßig große Mengen der Muscheln konsumieren, sind möglicherweise einer übergrenzwertigen Schwermetallaufnahme ausgesetzt.[5]

Sekundärliteratur

  • Brien S, Prescott P, Coghlan B, Bashir N, Lewith G. "Systematic review of the nutritional supplement Perna Canaliculus (green-lipped mussel) in the treatment of osteoarthritis.", QJM. 2008 Mar;101(3):167-79. Epub 2008 Jan 25. PMID: 18222988
  • Cobb CS, Ernst E. "Systematic review of a marine nutriceutical supplement in clinical trials for arthritis: the effectiveness of the New Zealand green-lipped mussel Perna canaliculus.", Clin Rheumatol. 2006 Mai;25(3):275-84. Epub 2005 Oct 12. PMID: 16220229
  • Halpern GM: "Anti-inflammatory effects of a stabilized lipid extract of perna canaliculus (Lyprinol®)". Allergie Immunologie, 32, 272-278, 2000

Primärliteratur

  • Couch RAF, Ormrod DJ, Miller TE, Watkins WB: Anti-inflammatory activity in fractionated extracts of the green-lipped mussel. N Z Med J, 24, 803-806, 1982
  • Gibson RG, Gibson SLM, Cnoway V, Chappell D: Perna canaliculus in the treatment of arthritis. The Practioner, 224, 955-960, 1980
  • MacKenzie L, Holland P, McNabb P, Beuzenberg V, Selwood A, Suzuki T: Complex toxin profiles in phytoplankton and Greenshell mussels (Perna canaliculus), rvealed by LC-MS/MS analysis. Toxicon, 40, 1321-1330, 2002
  • Miller TE, Ormrod D: The anti-inflammatory activity of perna canaliculus (NZ green lipped muscle). N Z Med J, 92, 187-193, 1980
  • Morohashi A, Satake M, Naoki H, Kaspar HF, Oshima Y, Yasumoto T: Brevetoxin B4 isolated from greenshell mussels Perna canaliculus, the major toxin involved in neurotoxic shellfish poisoning in New Zealand. Natural Toxins, 7, 45-48, 1999
  • Rainsford KD, Whitehouse MW: Gastroprotective and anti-inflammatory properties of green lipped mussel (Perna canaliculus) preparation. Arzneim Forsch Drug Res, 30, 2128-2132, 1980
  • Caughey DE, Grigor RR, Caughey EB, Young P: Perna canaliculus in the treatment of rheumatoid arthritis. Eur J Rheum Inflam, 6, 197-200, 1983

Quellenverzeichnis

  1. Halpern GM: "Anti-inflammatory effects of a stabilized lipid extract of perna canaliculus (Lyprinol®)". Allergie Immunologie, 32, 272-278, 2000
  2. Cobb CS, Ernst E: "Systematic review of a marine nutriceutical supplement in clinical trials for arthritis: the effectiveness of the New Zealand green-lipped mussel Perna canaliculus"., Clin Rheumatol, 2006, vol 25, issue 3, Seiten 275–284
  3. Brien S, Prescott P, Coghlan B, Bashir N, Lewith G. "Systematic review of the nutritional supplement Perna Canaliculus (green-lipped mussel) in the treatment of osteoarthritis.", QJM. 2008 Mar;101(3):167-79. Epub 2008 Jan 25. PMID: 18222988
  4. http://www.bfr.bund.de/cm/238/aerztliche_mitteilungen_bei_vergiftungen_2008.pdf, Seite 64f
  5. Whyte AL, Hook GR, Greening GE, Gibbs-Smith E, Gardner JP. "Human dietary exposure to heavy metals via the consumption of greenshell mussels (Perna canaliculus Gmelin 1791) from the Bay of Islands, northern New Zealand.", Sci Total Environ. 2009 Jul 1;407(14):4348-55.